Staatsversagen nennen es einige Kritiker, was die Bundesregierung sich in Sachen Afghanistan in letzter Zeit geleistet hat. Das mag man so sehen, wie auch in manch anderen Krisensituatonen unsere staatlichen Instanzen und Behörden eher bräsig wirken und nicht in die Puschen kommen, wenn die Hütte brennt und schnelles, entschlossenes Handeln gefragt wäre.
Was vor Jahrzehnten bei der Hamburger Flutkatastrohe Innensenator Helmut Schmidt tat (schnell und unbürokratisch, ohne Rücksicht auf den „Dienstweg“, für die Rettung von Menschenleben zu sorgen), das wurde im Nachhinein viel belobigt. Wenn wir uns heute umsehen, vermissen wir auf breiter Fläche solche Macher, die in einer Ausnahmesituation handeln und nicht erst lange nach Vorschriften fragen und Zuständigkeiten klären.
Schon in der Pandemie-Bekämpfung 2020-21 waren viele BürgerInnen genervt von den Kompetenz-Querelen zwischen Bund und Ländern. Und da wir gerade beim Meckern sind: In der Zusammenarbeit von Polizei- und Verfassungsschutz-Behörden verschiedener Bundesländer hakt es auch (wie im Fall Amri). Ehe ich noch weitere Beispiele anführe: Im Ausland sagten früher Viele, die Deutschen könnten gut organisieren und seien so effizient. Diese Ansicht dürfte sich langsam ändern. Zumindest in ruhigen Zeiten mag dieses Arbeiten nach Vorschrift seine Berechtigung haben, aber bei Gefahr im Verzug ist es unflexibel und steht sich selbst im Weg.
Staatsversagen könnte man auch in anderen Bereichen sehen. Da ist z.B. die Situation auf dem Wohnungsmarkt: Im Sinne von Daseinsvorsorge müsste der Staat doch allen BürgerInnen ermöglichen, eine bezahlbare Wohnung zu finden, d.h. ihnen ein Recht auf Wohnen zubilligen. Stattdessen steigt die Zahl der Obdachlosen. Davor kann man die Augen verschließen und weiterhin behaupten: Der Markt regelt das von allein, der Staat soll sich heraushalten. Doch dazu sollte, nein müsste der Staat die nötigen Rahmenbedingungen schaffen und Großinvestoren (auch aus dem Ausland) vom Markt fernhalten, sofern sie nicht bestimmte Sozialstandards einhalten. Handhabe dazu bietet die im Grundgesetz angesprochene, wenn auch sehr allgemein formulierte Sozialbindung: „Eigentum verpflichtet.“ (GG Art. 14, Abs. 2)
War’s das? Nein, ich bin noch nicht fertig. Erst das Bundesverfassungsgericht musste der Bundesregierung vorhalten, dass sie im Klimaschutz zuwenig unternahm und auf die kommende Generation zuwenig Rücksicht nahm. Und was höre ich aus Brüssel? Dort tut die Bundesregierung zuwenig für den Schutz von Natur und Umwelt in der Landwirtschaft: Sie segnet die Ausschüttung der Milliarden für die Landwirtschaft in der EU ab, bei der immer noch die großen Player bevorzugt werden, die Massentierhaltung, die konventionelle Bewirtschaftung großer Flächen ohne Rücksicht auf Artenvielfalt und Klima, die umweltbelastende Verwendung großer Mengen von Pestiziden und Düngemitteln… während ökologisch bewusster wirtschaftende Betriebe wegen geringerer Größe benachteiligt werden.
Grrrr… Ich muss mich zügeln, bevor ich noch weiter meckere. Bin ich deshalb schon gegen den Staat? Ganz und gar nicht. In der Schweiz, einer lange bestehenden Demokratie, lautet ein Spruch: „Wer sein Vaterland liebt, der meckert drüber.“ Das ist der gravierende Unterschied etwa zu „Reichsbürgern“ und diversen Rechtspopulisten: Die wollen den Staat torpedieren und delegitimieren, weil sie Fans von Diktatur und Gewaltherrschaft sind. Die haben also (ähnlich wie W. Putin und Xi Ping) ein Interesse daran, dass unser Staat hier nicht funktioniert, weil sie gegen das demokratische Modell sind, in dem die allgemeinen Menschenrechte als Leitidee gelten. Wer den damals utopischen Roman „1984“ von George Orwell kennt, der weiß, wie die autoritäre, diktatorische Alternative zur Demokratie aussieht.
Darum kritisiere ich die gegenwärtige Politik der Bundesregierung: Ich wünsche mir Verbesserungen, die konkret für die EinwohnerInnen dieses Landes spürbar das Leben erleichtern. Und zwar meine ich damit die EinwohnerInnen, die es nötig haben. Kommt mir also nicht mit Steuererleichterungen für Reiche, die angeblich „die Wirtschaft“ ankurbeln. Sorgt lieber z.B. für mehr Personal in Altenheimen, Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern, Personal, das anständig bezahlt und nicht überlastet wird.
Schon 2013 habe ich in einem Beitrag darauf hingewiesen. Was hat sich seitdem verbessert? Die Corona-Krise hat gezeigt, wie es aussieht, nämlich (auf Deutsch gesagt:) beschissen. Jetzt glaubt bloß nicht, daraufhin sei die Regierung zügig und entschlossen an eine wirksame Verbesserung der Lage gegangen. Deutschland ist, vereinfacht gesagt und von außen betrachtet, erstens ein Paradies für Ausbeuter geworden, und zweitens eine Hochburg der Bürokratie.
Letzteres hat die Bundesregierung perfide genutzt, um bis Mitte August die Rettung afghanischer „Ortskräfte“ (die für die Bundeswehr und andere deutsche Organisationen arbeiteten) zu behindern und zugleich zügig noch ein paar afghanische Asylbewerber abzuschieben in das „sichere“ Land. Der Wahlkampf hat das noch verstärkt: Nicht zufällig sagte kurz vor der Übergabe von Kabul Unions-Kanzlerkandidat Laschet: „Ein 2015 darf sich nicht wiederholen.“ Das war offenbar die große Sorge der Regierenden und ihrer Parteien: Bloß kein Flüchtlingsthema im Wahlkampf! Dann lieber so tun, als sei man von der Entwicklung in Afghanistan total überrascht und überrollt worden.
So, genug davon. Seid mir nicht böse, verehrte BesucherInnen dieser Website und dieses Blogs, wenn ich hier etwas deutlich geworden bin. Aber ich kann das mit Fakten begründen und bin ziemlich sicher, dass ich in der Sache richtig liege. Und ich bin zuversichtlich, dass die meisten BesucherInnen dieser Website das als denkende Menschen einordnen können.
J. B.-L.
Anmerkung des SR: Obiger Gastbeitrag wurde von Julie Bogner-Lafranc für unseren Blog geschrieben. Einige unserer LeserInnen kennen sie schon von einem früheren Beitrag von 2013, auf den sie oben auch anspielt (>Frekena, Die Beatus-Chronik, FAQ, dort unter Frage 2 anklicken: BC-Nachwort von JBL)