Da haben wir’s: Die Briten stimmen mit knapper Mehrheit für den „Brexit“, den Austritt aus der Europäischen Union (EU). Im Fernsehen sieht man die Anhänger des Austritts jubeln, als das Ergebnis bekannt wird.
Als Freund der Briten frage ich mich allerdings etwas beklommen: Werden diese Menschen in ein paar Jahren auch noch jubeln können, wenn sie an den 23. Juni 2016 zurückdenken, den Tag des Referendums?
Ein zweiter Blick auf die Ergebnisse zeigt, dass Großbritannien keineswegs einheitlich abgestimmt hat. Mehr>Brexit: Die Ergebnisse in einer Karte – SPIEGEL ONLINE
Mal abgesehen von wirtschaftlichen Folgen — das Referendum, vor Jahren aus innenpolitischen Gründen von Premierminister Cameron losgetreten (mehr >Wie David Cameron versehentlich die Europäische Union opferte – DIE WELT) , beschert dem Land nun verschärfte innenpolitische Probleme. Im überwiegend EU-freundlichen Schottland stehen Kräfte in den Startlöchern, die vor Kurzem erst einen Austritt aus GB herbeiführen wollten und damals mit einem Referendum (noch?) scheiterten. Was die Brexit-Marktschreier den „Independence-Day“ nennen, könnte zum Startschuss für eine Independence-Aktion Schottlands werden und zu einem geschwächten Britannien führen. Damit würde das Gegenteil von dem erreicht, was sich vor allem ältere Briten vom EU-Austritt versprechen.
Überhaupt scheint mir die Brexit-Kampagne ein Lehrbeispiel für nationalistischen Populismus zu sein, wie er in vielen Teilen Europas aufkommt: Statt mit rationalen Argumenten operierte die Brexit-Kampagne mit emotionalen Appellen an Nationalstolz und nationalen Egoismus, vermischt mit ausländerfeindlichen Ressentiments, und scheute auch nicht Verdrehung von Tatsachen und freche Lügen, womit sich auch einige Blätter der Boulevardpresse hervortaten (In diesem Fall liegt es einmal nahe, von „Lügenpresse“ zu sprechen). Alles diente nur dem Aufputschen von Emotionen, um den Verstand zu vernebeln: Wählt mit dem Bauch! (Egal, ob ihr damit hinterher auf denselben fallt…)
Was Populisten nicht wollen, ist sachliche Aufklärung und Appelle an den Verstand. Das wäre nur hinderlich, wenn man Stimmvieh zusammentreibt. Wohlgemerkt: Nichts gegen Gefühle, aber dazu hat uns der Herrgott doch auch noch ein Denkvermögen geschenkt. Und er hat nicht verboten, diese Gottesgabe zu benutzen! Das sollte man gerade dann bedenken, wenn es um politische Entscheidungen mit weitreichenden Folgen geht.
Das Foto oben erinnert mich daran, dass ein alter Spruch sagt: „Solange die Raben um den Tower fliegen, geht das Empire (oder das United Kingdom) nicht unter.“ Wer die Raben am Tower of London beobachtet, stellt fest, dass sie viel über den Rasen schreiten, doch kaum fliegen — weil man ihnen vorsichtshaber die Flügel gestutzt hat, damit sie den Bestand des Empire bzw. United Kingdom sichern und nicht davonfliegen. Auch das passt symbolhaft zu der Brexit-Kampagne: Vorspiegelung falscher Tatsachen. In Wahrheit sind die Raben am Tower kein Zeichen mehr für den Fortbestand Großbritanniens.
Einige Brexit-Befürworter riefen in Fernsehkameras: „Freedom!“ Wie, durch den Brexit? Wenn das mal kein Aberglaube ist… Hier zitiert sich W. R. einmal selbst mit einem selten gebrauchten Spruch: „Volkes Mund tut Unsinn kund.“ (Trifft zumindest auf ein desinformiertes Volk zu.)
W. R. 24.06.2016
Nachtrag: Am Tag, an dem das Abstimmungsergebnis bekannt wurde, trat Boris Johnson, „das Gesicht der Brexit-Kampagne“, vor die Medien und säuselte Sätze von „Alle müssen jetzt wieder zusammenstehen“ und „Wir sind trotzdem alle Europäer.“ Mann, dachte ich, hast Du plötzlich Kreide gefressen? Boris will Premier Cameron beerben, doch in diesem Moment erschien er mir wie jemand, der Schiss in der Hose hat, weil er als Premier den ganzen Mist übernehmen und verantworten müsste, den er angerichtet hat. Daher versucht er sofort, Öl auf die Wogen zu gießen, die er wochenlang mit aufgepeitscht hat. Dann taucht er erstmal ab in sein Landhaus, um mit seinen Beratern in Klausur zu gehen.
Derweil erregen sich vor allem junge Briten — die wird er wohl kaum bei zukünftigen Unterhauswahlen für sich mobilisieren können. Und die Mehrheit der Schotten auch nicht. Die Tories werden sich also überlegen müssen, ob sie mit so einem Spitzenkandidaten Wahlen gewinnen könnten…
Nachtrag am 30.06.: Offenbar lag ich richtig, Boris J. hat erklärt, er werde nicht für den Parteivorsitz der Konservativen und das Amt des Premiers kandidieren. Damit verliert das Brexit-Lager seine populärste Führungsfigur. —
Nachtrag am 05.07.: Nun hat auch noch der UKIP-Vorsitzende Nigel Farage hingeschmissen. Auch ihm ist es wohl zu heiß, den Brexit zu verantworten, für den er vor dem Referendum jahrelang Stimmung gemacht hat. Ein Tollhaus, die britische Innenpolitik derzeit! Aber Farage kann es nicht ganz lassen, er will in Europa für weitere Austritte aus der EU werben. Mich beschleicht langsam das Gefühl: Diese Politiker gefallen sich in Volkstribun-Posen, putschen Emotionen auf und treiben Stimmvieh-Herden zu Wahlurnen, haben aber keine langfristigen politischen Konzepte und daher auch keine Lust, langfristig ernsthafte politische Arbeit zu machen — mit dem mühsamen „Bohren dicker Bretter“.
Schaut man sich in Europa um, so sieht man einige Chaoten dieser Art, vor allem im rechten, nationalistischen Lager. Dort schreiben sie sich Sabotage gegen „das System“ auf die Fahnen, können mit Demokratie wenig anfangen und streben mehr oder weniger autoritäre Machtapparate an. Zielvorgabe: Wir brauchen kein Sachprogramm und keine sachliche Mitarbeit in Parlamenten, wir wollen einfach nur an die Macht!
Und da man in diesem Lager gern Verschwörungstheorien hört, sage ich: Das alles ist Putins Werk, er fördert alles, was die EU stört und Unruhe macht. Typisch waren die Schlägertrupps, die zur Fußball-EM nach Frankreich geschickt wurden und bei ihrer Rückkehr fast wie Kriegsheimkehrer begrüßt wurden.
Ich kenne einen, der einen kennt, der gehört hat, wie russische Agenten in einem Hinterzimmer in London……. Stop: Wer weiß, ob diese Fantasie nicht schon von der Wirklichkeit überholt wurde? Wer weiß überhaupt noch irgendetwas sicher? Am besten baue ich die Fantasie von der Unterwanderung der EU noch etwas abenteuerlicher aus, stelle sie in sozialen Netzwerken ein, und mit Sicherheit verbreitet sich auch diese „Wahrheit“ im Netz! Da wimmelt es ohnehin schon von Desinformation und Schein-Enthüllungen.
W. R.