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Kraftmeier am Bosporus

8daIn Deutschland tritt eine Parlaments-Abgeordnete von ihren politischen Ämtern zurück, nachdem öffentlich bekannt geworden ist, dass sie einen Teil ihrer offiziellen Biografie (Abitur, Jurastudium, Staatsexamina) gefälscht hat. Ähnliches geschah mehreren Politikern, nachdem ihre Doktorarbeiten einer Plagiatsüberprüfung nicht standgehalten hatten.

In der Türkei ist man da offenbar großzügiger: Staatspräsident Erdogan hat anscheinend auch seine offizielle Biografie mit einem Hochschulabschluss geschönt, dabei aber übersehen, dass die Urkunde von einer Akademie ausgestellt wurde, die erst im Folgejahr gegründet wurde, und von Leuten unterzeichnet ist, die erst im folgenden Jahr ihre Ämter an dieser Hochschule antraten. Genau genommen hätte er ohne diesen akademischen Abschluss (laut Verfassung) nicht türkischer Staatspräsident werden dürfen (mehr >Recep Tayyip Erdogan: Hat er sein Diplom gefälscht? – SPIEGEL ONLINE ).
Das verschärfte offenbar nur seinen öffentlichen Ton gegen Akademiker, die es sich angeblich auf Staatskosten gut gehen lassen, und gegen kritische Journalisten.

Dann kam der niedergeschlagene Putschversuch vom Juli 2016, das „Gottesgeschenk“ (so sein Kommentar). Nun wütete Erdogan ungebremst los gegen Gebildete im Staatsdienst und kritische Medien. Er scheint ein persönliches Problem damit zu haben, dass es Leute gibt, die ihn oder seine Politik kritisieren.
Das könnte sich bei ihm so abspielen: Die wollen mir was, die gönnen mir meinen Aufstieg aus einfachen Verhältnissen an die Staatsspitze nicht. Das Mittel meiner Wahl: „Säuberungen“ im Staat, weg mit all den Klugscheißern, die mir als Führer der Türkei nicht zujubeln, die nicht für mich auf die Straße gehen.
Viele Gebildete kommen aus den Schulen der Gülen-Bewegung, die er früher zum Verbündeten hatte und nun zum Staatsfeind und Putsch-Anstifter erklärt hat. Nicht, dass man diese religiös geprägte Bewegung sympathisch finden müsste — sie scheint ein wenig wie Scientology auf islamisch zu sein. Aber die „Machtergreifung“ Erdogans durch einen Putsch von oben, als Reaktion auf das oben erwähnte „Gottesgeschenk“, macht ihn keineswegs sympathischer.
Folge seiner „Säuberungen“ wird ein Chaos in Justiz, Verwaltung und im Bildungswesen sein, die vielen suspendierten, entlassenen und verhafteten Leute wird er mittelfristig nur unzureichend durch andere, teils weniger qualifizierte Köpfe ersetzen können, zumal die erwünschte Gesinnung wichtiger ist als Qualifikation. (Eine Personalpolitik nach Parteibuch statt Qualifikation hat auf Dauer noch keiner Organisation gut getan.)
Und das türkische Militär dürfte auch geschwächt sein — nicht unwichtig bei der Größe dieser Armee. Die ist immerhin Teil der Nato. Auch deshalb kann der Zustand der Türkei anderen  Nato-Staaten nicht egal sein. Dass auch noch die Wirtschaftsentwicklung der Türkei in Turbulenzen kommt, macht die Lage nicht einfacher. Jedenfalls kann Erdogan mit seiner Innenpolitik nicht auf einen baldigen Beitritt zur EU hoffen. Es scheint ihm viel wichtiger zu sein, weiter zu kraftmeiern, gegen Kritiker Amok zu laufen und sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei auszusprechen, als dem Land den Weg in die EU offenzuhalten.

Im Laufe des Oktober 2016 zeichnet sich ab, dass Erdogan auch außenpolitisch nicht von der Kraftmeierei lassen kann. Heißt konkret: Er nimmt großtürkische Expansionsträume auf und greift militärisch in den Bürgerkrieg in Syrien und im Irak ein. Der Nordirak mit der Stadt Mossul wird als früherer Teil des Osmanischen Reiches (das es nicht mehr gibt) nun für die Türkei beansprucht (Putin lässt grüßen). Auch andere Machthaber und Diktatoren versuchten in der Geschichte, Gebiete „heim ins Reich“ zu holen… Das ist ein so abgestandenes Rechtfertigungsmuster von Expansionspolitik, dass es einen Historiker schon anöden kann. >Türkei: Recep Tayyip Erdogan träumt vom Osmanischen Reich – SPIEGEL ONLINE

8dbEbenso altbekannt ist das Muster, bei Schwierigkeiten im Inneren die Unzufriedenheit u.a. dadurch einzudämmen, dass man einen äußeren Feind aufbaut und nationale Geschlossenheit im Inneren einfordert. Dieses Mittel hat sogar Margaret Thatcher als Regierungschefin einer westlichen Demokatie nicht verschmäht: Während des Falkland-Krieges (1982) bezeichnete sie die Kritiker im Lande als „the enemy within“. Auch George W. Bush jr verfuhr so mit Kritikern seines Krieges gegen den Irak (2002). Dieses Muster kopiert derzeit Erdogan, der ja Krieg gegen die PKK, gegen kurdische Peschmerga in Syrien und im Irak, und gegen den IS führt.

Was geht das uns an, die wir als Deutsche in Deutschland leben? Haben wir uns nicht aus „innertürkischen Angelegenheiten“ herauszuhalten? Kann es uns nicht egal sein, wenn „weit hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“, wie Goethe eine Figur in seinem „Faust“ sagen ließ? Erstens nein, weil in Zeiten der Globalisierung nicht einmal egal ist, ob im fernen China der sprichwörtliche Sack Reis umfällt; zweitens nein, weil die Türkei, wie gesagt, Nato-Partner ist, und ein Handelspartner Deutschlands; drittens nein, weil die aktuelle Flüchtlingsproblematik auch mit der Politik der türkischen Regierung verbunden ist; viertens (und eigentlich am wichtigsten) nein, weil viele Türken und türkischstämmige Menschen in Deutschland leben und ein großer Teil von ihnen die Politik Erdogans lautstark gutheißt und unterstützt.

Was das für die Mentalität und das Selbstverständnis vieler Türken und Türkinnen hier bedeutet, bringt eine Deutschtürkin mutig und unverblümt auf den Punkt: >Tuba Sarica | Integration · Islamkritik · Weltgeschehen

Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass man Erdogan gewähren ließ, als er zum innertürkischen Wahlkampf nach Deutschland kam und in Großveranstaltungen seinen Landsleuten zurief, sie seien nach wie vor Türken und brauchten sich nicht in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Das war zwar vorrangig als Stimmenfang für den Wahlkampf in der Türkei gedacht, man konnte es aber zugleich als eine de-facto-Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland sehen. (Wohlgemerkt: Das war lange vor dem Flüchtlings-Deal!)

9eDerzeit ist deutlich zu erkennen, dass Erdogan seine Machtpolitik trotz aller Kritik aus dem Ausland fortsetzt und sogar verstärkt. Ähnliches sehen wir auch bei anderen Machtpolitikern, die in ihren Ländern autoritäre Regime auf- und ausbauen. Kritik aus dem Ausland wird zu einer Verschwörung umgedeutet, Kritik im Inland niedergeknüppelt. Der Staatspräsident erklärt: Hier wird die „fortgeschrittene Demokratie“ (!) verteidigt. Wie bitte? Das ist doch eher die fortgeschredderte Demokratie: Kritiker werden in „Schutzhaft“ genommen, die Medien gleichgeschaltet.

Dazu noch eine weitere Stimme: >Offener Brief von Shermin Langhoff in Berlin: „Das Ende der Demokratie in der Türkei“ – Politik – Tagesspiegel

Während Erdogan so tut, als ließe ihn alle Kritik an seinem autoritären Regime kalt, sammelt er doch fleißig Ehrendoktor-Titel, um sich mit einer Aura akademischer Weihe zu umgeben und damit die Fragen nach seinem Universitätsabschluss in den Hintergrund zu drängen. Hauptsache, er erscheint seinen Anhängern weiter als der vielgeehrte, große, starke Mann. Die Anderen werden eingeschüchtert und mundtot gemacht.

W. R.