In den Köln-Notizen #9 ging es u.a. um den heutigen Blick auf St. Martin und das Verständnis der moralischen Werte, für die diese Figur steht. Diese Figur ist ein Heiliger der katholischen Kirche, außerdem eine historische Persönlichkeit, die im 4. Jahrhundert lebte, in einer Zeit, in der das Christentum im Römischen Reich nicht mehr von Staats wegen verfolgt, sondern anderen Religionen durch das Toleranzedikt Kaiser Konstantins aus dem Jahre 313 endlich gleichgestellt, und bald darauf sogar vom Staat gefördert wurde.
Streng historisch genommen lebte Martin also in der Spätantike, aber im Übergang zum Mittelalter wurde er zum Nationalheiligen des fränkischen Reiches und auch in den folgenden Jahrhunderten hoch geachtet. Dabei wurden jedoch manche Aspekte seiner Persönlichkeit ignoriert, weil sie nicht ins kirchenpolitische Konzept passten.
Martin hatte seinen eigenen Kopf und war alles Andere als ein stromlinienförmiger Mitläufer. In der berühmten Mantelteilung hängte er sein Mäntelchen gerade nicht nach dem Wind, sondern half einem frierenden Armen, ohne sich um Vorschriften zu kümmern, die ihm das untersagt hätten: Als römischem Armeeangehörigen war es ihm nicht erlaubt, Heereseigentum zu beschädigen oder zu verschenken (Das ist auch heute noch Teil der militärischen Vorschriften). Doch er zerschnitt seinen Mantel und gab dem Frierenden einen Teil, auf dass er sich vor dem kalten Wind schütze.
Die Mantelteilung ist die symbolische Handlung schlechthin, die sich mit dem Namen des heiligen Martin von Tours verbindet. Doch war das nicht die einzige Gelegenheit, bei der Martin sich als Mensch zeigte, der Menschlichkeit und Gewissen über Vorschriften, Regeln oder die Mehrheitsmeinung stellte.
Martin war wenig begeistert vom Trend der christlichen Kirche, von Konstantin und den Nachfolgern nicht nur Wohltaten anzunehmen, sondern sich dem Kaiser und dem Staat sozusagen an den Hals zu werfen und dadurch nicht nur Vorteile zu erlangen, sondern auch eine engere Verbindung mit dem römischen Staat einzugehen und Abhängigkeiten in Kauf zu nehmen.
Man kann sich vorstellen, dass die Kirche, nach der bekannten historischen Entwicklung zur Staatsreligion im Römischen Reich sowie zur engen Zusammenarbeit mit anderen Machthabern wie dem Frankenkönig Chlodwig und den Regierungen bis heute, die Vorbehalte des Martin gegen die Verquickung von Kirche und Staat nicht gern thematisierte.
Und eine weitere Stellungnahme Martins zu einer anderen Entwicklung passte dem Mainstream ebenso wenig: Als der spanische Bischof Priscillian wegen abweichender theologischer Meinungen als Ketzer zum Tode verurteilt wurde, protestierte Martin gegen diesen Beschluss. Martin teilte die Ansichten des Priscillian nicht, wehrte sich aber gegen die neue Praxis, solche Abweichler zum Tode zu verurteilen.
Leider hatte Martins Protest keinen Erfolg, vielmehr wurde es im Mittelalter gängige Praxis, als Ketzer Verurteilte öffentlich zu verbrennen. Die Kirche bzw. ein Inquisitionstribunal verurteilte (streng korrekt) nach festgelegten Kriterien den „Ketzer“, übergab ihn dann zur Vollstreckung des Urteils der weltlichen Gerichtsbarkeit, weil die Kirche „kein Blut an den Händen“ haben wollte. Und dann wurde der Scheiterhaufen angezündet. Ähnlich verfuhr man mit „Hexen“ oder „Hexern“.
Gegen den Hexenwahn und die unmenschliche Praxis der Prozesse, die in der frühen Neuzeit meist unweigerlich zum Todesurteil führten, wandte sich Friedrich Spee von Langenfeld, auch ein Mann der Kirche, in einem Buch mit dem Titel „Cautio Criminalis“ (1631). Daran sieht man: Wer pauschal „die Kirche“ für Ketzer- und Hexenverfolgung sowie andere Grausamkeiten verantwortlich macht, der übersieht, dass Viele in der Kirche moralisch sensibel waren und ihr Gewissen befragten, wodurch sie nicht nur zu kritischen Gedanken geführt wurden, sondern sich auch zu offener Kritik gedrängt fühlten.
Offene Kritik war riskant, man gefährdete nicht nur seine Karriere, man wurde oft auch verdächtigt, mit Ketzern oder Hexen zu sympathisieren. So läuft das immer in autokratischen bzw. autoritär geführten Systemen. Von da führt eine gedankliche Linie bis zu dem Katholiken Hans Küng, der als Theologe seine Kirche kritisierte und damit seine kirchliche Lehrerlaubnis riskierte. Küngs Kritik zielt vor allem auf die absolutistische Macht des Papstes über die Kirche, er favorisiert ein System erweiterter Mitsprache der Gläubigen, z.B. auch mit mehr Macht für die Konzilien, wie es sie in der Geschichte früher teilweise gab.
Kurzum: Es gibt (nicht nur in der katholischen Kirche) durchaus Menschen, die mit einem durch ihre Religion geschärften Gewissen offen ihre Meinung kundtun und sich nicht vor vorgesetzten Autoritäten wegducken. Dafür gab schon Martin von Tours ein Beispiel, das aus erklärbaren Gründen (s.o.) auf seine Mitleidstat gegenüber einem armen Frierenden reduziert wurde.
Man kann sagen: Zumindest in der heutigen Zeit, in der wir demokratische Werte hochhalten und oft von Menschenrechten reden, reicht es nicht mehr, sich stur gegen den „Zeitgeist“ zu stemmen und an Werten aus Kaisers Zeiten festzuhalten. Da müssen Christen mehr bieten als Lippenbekenntnisse, um glaubwürdig zu sein. Sturer Doktrinismus und Fundamentalismus sind keine Qualitätsmerkmale für eine Religion, die für sich beansprucht, die Menschen und ihre Nöte wirklich ernst zu nehmen. –
Quelle zu St.Martin u.a.: Martin Happ, „Die Martinslegende als ein religionsgeographisches Problem“, überarb. Fass. aus: M. Büttner (Hrsg.), Beiträge zum Geographentag in Bonn 1997, Fft./M. 1998, S. 59-88
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