Mal wieder stand die übliche Gruppe um den halbrunden Tresen herum und kam ins Debattieren. Jupp hörte gleichmütig mit, hielt sich aber heraus und konzentrierte sich auf den unmittelbaren Nachschub, wenn sich Gläser leerten. Er war eben ein erfahrener Wirt und Gastgeber.
Ein Streitgespräch nahm gerade Fahrt auf.
„Nee, Tünn, dat seh ich janz anders,“ ereiferte sich Heiner, „der Kanzler macht et richtig: Kein Taurus in die Ukraine, dat es zu jefährlich! Nachher schießen die dem Putin seine Lieblingsbrücke an der Krim kaputt, und dann dreht der womöglich durch un sacht: ‚Jetzt reicht’s, jetzt mach ich die mit ein paar kleinen Atomwaffen platt, un dann sitze ich im Kreml un lass die Unterhändler zu mir kommen und um Frieden winseln.“
„Nee, Heiner, dat es reine Spekulation. Aber ich finde, dat läuft sowieso falsch bei uns. Putin weiß immer schon vorweg, wat wir vorhaben, bevor et bei uns in den Nachrichten kommt un in der Zeitung steht. Aber zu allererst sagen ihm schon seine Spione und die abgehörten Gespräche von Führungsoffizieren, was bei uns geplant wird.“
„Deswegen;“ schaltete sich Karl-Heinz ein, „würde ich als Kanzler sowieso zweigleisig fahren. Auf der einen Seite würde ich so reden wie Scholz, damit die Pazifisten in meiner Partei beruhigt sind, und auf der anderen Seite würde ich unter strengster Geheimhaltung den Einsatz von Taurus-Marschflugkörpern von ukrainischen Spezialisten trainieren lassen, schon seit Monaten.“
„Du willst also, dass der Kanzler die Öffentlichkeit belügt;“ polterte Heiner dazwischen.
„Mensch, Heiner, darum geht’s doch gar nicht.“
„Und worum dann?“ erregte sich Heiner noch lauter.
„Komm mal ein bisschen runter! Es geht doch nicht um Befindlichkeiten von uns friedensverwöhnten Deutschen. Es geht darum, wie es auch Scholz gesagt hat: Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren. Und derzeit sieht es nicht so gut für sie aus. Der Ukraine geht die Munition aus, dabei hatten westliche Staaten viel mehr versprochen, als in letzter Zeit angekommen ist.“
„Daran ist doch der Kanzler nicht allein schuld,“ warf Tünn ein.
Karl-Heinz ließ sich nicht beirren. „Die Lage ist jetzt, wie sie ist. Die Russen haben keine Nachschub-Probleme, solange sehr viel über die Kertsch-Brücke herangebracht wird. Dadurch entsteht an der Front eine russische Überlegenheit, die viele ukrainische Opfer kostet. Die Zerstörung der Kertsch-Brücke oder wenigstens ihre nachhaltige Beschädigung würde einen russischen Vormarsch verhindern oder verlangsamen. Die Ukrainer würden Zeit gewinnen, der Westen könnte mehr Munition und Luftabwehr liefern…“
„Die Brücke ist aber auch Putins Prestigeobjekt, mit dem er sich gebrüstet hat. Er könnte doch ausrasten und, wie Heiner schon sagte, …“
„Jetzt hört mal auf mit Euren Spekulationen, Ihr Sandkastenstrategen! Redet nich dauernd vom Militär, redet lieber von Friedensverhandlungen…“
„… die nicht stattfinden,“ warf Karl-Heinz ein. „Putin hat vot Kurzem selbst gesagt, dass er keinen Grund für Verhandlungen sieht. Ja, warum denn auch? Er wittert Morgenluft und hofft auf eine Niederlage der Ukraine, und weil er alles tun wird, um Trump ins Weiße Haus zu hieven, und weil der Westen derzeit zuwenig an die Ukraine liefert, und weil bei uns immer noch Rücksicht auf Friedenstauben genommen wird. Wer wünscht sich keinen Frieden! Aber was ist das für eine Anmaßung, den Ukrainern nahezulegen: Nun gebt doch noch was ab von Eurem Land, dann ist Ruhe. Wofür haben die denn schon über zwei Jahre gekämpft?“
„Da hat der Karl-Heinz nen Punkt!“ meinte Heiner. Es sind doch wir und andere Europäer, die ihre Ruhe wieder haben wollen. Aber denken wir mal nach: Diese Ruhe, in der wir uns vor dem Februar 2022 wähnten, die ist eine Illusion, auf jeden Fall für die Zukunft. Putin muss sich schlapp gelacht haben, als wir unsere Bundeswehr heruntergespart haben…“
„… und dazu die Wehrpflicht de facto abgeschafft!“ rief Tünn dazwischen.
„Ja, schlimm,“ meinte Karl-Heinz, „aber das ist Geschichte. Wir sollten aus der Geschichte lernen, aber möglichst das Richtige. Jetzt ist die Lage so, dass Putin gewinnen könnte. Ich glaube, dass sich Viele immer noch nicht klar darüber sind, was das bedeutet.“
„Geeenau!“ meldete sich Gerhard genannt Gerry zu Wort. „Ich weiß zwar nicht, ob unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt wurde, aber ich bin mir schon viel sicherer, dass sie in der Ukraine verteidigt wird.
Wie man jetzt hörte, fehlte uns in Afghanistan eine schlüssige Strategie, und teilweise auch die passende Ausrüstung für unsere Soldaten. Und heute? Wir unterstützen die Ukraine mit Ausrüstung und viel Geld, um den Staat am Leben zu erhalten. Aber wenn es darum geht, dass die Russen aus dem Land gedrängt werden, dann hören wir hier so manches Herumgeeiere. Von Anfang an sagte Scholz zwar, die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren, aber er sagte nie, sie müsse den Krieg gewinnen. Das ist mir immer aufgestoßen, und ich habe mich gefragt: Warum sagt er es so und nicht anders? Nimmt er auf Putin Rücksicht, auf seine pazifistischen Landsleute, oder auf wen? Bestimmt denn Putin allein, wann wir als Kriegspartei gelten?“
„Und wenn Macron den Einsatz von Bodentruppen nicht ausschließt — ja wenn schon, das sind erst mal nur Worte, die aber Putin sagen: Wir schließen nicht aus, dass wir das mal tun könnten. Mehr nicht. Scholz aber sprang direkt darauf zu und schloss das kategorisch aus, weil wir nicht Kriegspartei werden wollen.“
So ging das Gespräch am Tresen noch eine Weile weiter, während ich mein Essen bekam und es genoss: Grünkohl bürgerlich, d.h. vermischt mit Kartoffelstückchen, dazu Mettwürstchen, daneben stellte die Bedienung ein frisch gezapftes Kölsch. Und ich vergaß für eine Weile, dass die Russen derzeit eine politische Spezialoperation schlucken müssen, die sie „Wahl“ nennen sollen, und dass sie seit über zwei Jahren einer militärischen Spezialoperation applaudieren sollen, die sie nicht „Krieg“ nennen dürfen…
W. R.
Update am 23.03.24: Kaum hat Putin die „Wahl“ gewonnen und sich als Sieger feiern lassen, hört man aus Moskau gestern: Man darf die „militärische Spezialoperation“ gegen die Ukraine jetzt auch „Krieg“ nennen. Das kann nur bedeuten, dass Putin nun glaubt, es nütze ihm mehr, offen von Krieg zu sprechen, weil damit weitere (unpopuläre) Einberufungswellen besser der Bevölkerung plausibel gemacht werden können.
Die russische Bevölkerung ist zwar nicht blöd, aber stark eingenebelt von der Propaganda der Staatsmedien. Alternative Informationsquellen sind den meisten Russen kaum bekannt oder zugänglich. Deshalb behauptet Putin unverfroren Dinge, an denen auch „normale“ Russen zweifeln mögen, z.B. dass die Spur der Attentäter vom Konzertsaal in Richtung Ukraine führe. (Allen Russen ist die voraufgegangene Serie von Anschlägen islamistischer Attentäter bekannt, die meist aus Tschetschenien kamen.)
Das zeigt mir: 1. Putin ist besessen von seinem Krieg gegen die Ukraine, 2. Putin interessiert sich nicht für Menschen, sondern allein für die Festigung seiner Macht — denn gerade dieses Attentat, für das eine IS-Gruppe die Verantwortung reklamiert, zeigt, dass er und sein Geheimdienst nicht alles im Griff haben, und das trotz Vorwarnung. Aber ich sage nur: Erzähl‘ mir was Neues über Putin, das ist doch nur sein übliches Verhalten.