Alle reden vom „Grexit“. Schon das Wort klingt schrecklich, und die Lage ist – mit oder ohne Grexit – für die meisten Griechen ja auch schrecklich. In unseren Medien werden sie bedauert, und meist wird auf ihre derzeitige Regierung geschimpft: Die wollen nicht nach unseren Regeln spielen! Entsprechend ist das Echo in Umfragen unter Deutschen: Eine Mehrheit will den Griechen nicht weiter entgegenkommen. Als ob wir Bürger in Deutschland überhaupt gefragt würden! In Umfragen zu politischen Fragen hört man ja sowieso meist das Echo der Medien, oder woher sollten die Leute andere Informationen haben, die sie zu einer anderen Meinung tendieren ließen? Und erklärt mir mal, ob es überhaupt um „unser Geld“ geht, oder was sonst dahintersteckt. Da blickt doch keiner wirklich durch. Ebenso dürfte es den Griechen gehen, die am 5. Juli mit Ja oder Nein abstimmen sollen, aber die Fragestellung auf dem Stimmzettel in ihrer Bedeutung und möglichen Tragweite kaum verstehen. Wie auch? Selbst die Experten wissen (angeblich oder tatsächlich) nicht, wie es nach dem Referendum weiter geht, oder sie haben keine einhellige Meinung.
Die ganze Dauerbeschallung mit Griechenland und Grexit-Gefahr in den Medien nervt. Man kann darüber fast vergessen, dass Europa noch andere Baustellen hat und wahrlich weitere, drängende Probleme. Europa als „Wertegemeinschaft“ steht auch nicht gut da vor der übrigen Welt. Die EU macht den Eindruck, dass ihre höchsten Werte materieller Natur seien, und moralische Werte würden mal hochgehängt, mal verdrängt – je nach Opportunität. Und meist je nach nationalem Egoismus – als ob man für ein geeintes Europa sein und zugleich Nationalegoismus praktizieren könnte (der meist auch noch innenpolitischer Taktik entspringt, um in nationalen Wahlen die Stimmen der geistig ein Jahrhundert Zurückgebliebenen zu fangen).
Übrigens: Wer auf die derzeitige griechische Regierung schimpft, der sollte mal kurz auf ein anderes südliches Land schauen, das auch eine weiß-blaue Flagge hisst. Da hat sich vielleicht sogar der griechische Ministerpräsident Tsipras Anregungen geholt: beim bayrischen Ministerpräsidenten Seehofer. Der kann ungestraft das politische Rumpelstilzchen spielen und mit bayrischem Egoismus Wählerstimmen fangen, und niemand fordert oder befürchtet bisher den „Baxit“, den Austritt Bayerns aus der Bundesrepublik, aus der EU (auf die gerade in Bayerns CSU gern geschimpft wird), oder aus dem Euro.
Viele Leute fordern, Europa müsse demokratischer werden, d.h. die Bürger sollten mehr Mitsprache erhalten. Was daraus werden kann, haben wir vor Jahren erlebt, als in ein paar Ländern über den Entwurf einer europäischen Verfassung abgestimmt wurde. Auch in Deutschland scheuten sich Politiker nicht, in einer Europawahl(!) auf Wahlplakate zu drucken, die Wähler sollten mit ihrer Stimme der Regierung in Berlin einen „Denkzettel“ geben. Es handelte sich um eine Partei, die als demokratisch galt, und die ihre Abgeordneten sowohl im Bundestag als auch im Europaparlament sitzen hatte. Innenpolitik war ihnen wichtiger, als den Wählern den Sinn dieser Wahl klar zu machen und ein Ziel für Europa zu formulieren. Der fatale Eindruck auf die Wähler: Europa ist uns (der FDP) scheißegal, das übliche parteipolitische Hickhack wichtiger.
Viele, die sich ähnlich verhielten, haben in mehreren europäischen Ländern dafür gesorgt, dass nationale Interessen in den Vordergrund rückten und die EU zunehmend als Bürokratie-Monster mit Regelungswut gesehen wurde. (Es wurden aber gern EU-Gelder gefordert und sehr gern angenommen.) Darunter litt auch die europäische Idee. Diese wünscht, auf den Punkt gebracht, vor allem friedliche Einigung statt Konflikte zwischen den Nationen. Immerhin hat Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal in seiner Geschichte mehrere Jahrzehnte ohne Krieg erlebt — bis zum Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren.
Europa kann nur reformiert und geeint werden, wenn es gelingt, die nationalen Egoismen einzudämmen und die gemeinsamen Interessen wieder in den Blick zu nehmen. Dazu braucht es aber auch starke Politiker-Persönlichkeiten mit humanen Visionen und der Fähigkeit, die Menschen mitzunehmen, besser noch: sie dafür zu begeistern. Umgekehrt braucht es auch politische Strömungen „von unten“, die von ihren Politikern Engagement für ein friedliches „gemeinsames Haus“ aller Europäer fordern. Fatal für alle Betroffenen (vor allem in dieser globalisierten Welt) wäre es, die Hoffnung auf eine friedliche Europa-Föderation zu begraben und nur noch nationalegoistisch weiterzuwursteln.
Derzeit blamiert sich die EU vor der Welt mit der Unfähigkeit der nationalen Regierungen, sich auf einen Verteilerschlüssel für die Flüchtlinge zu einigen. Das ist symptomatisch für das Verhalten auch in anderen Fragen. Die EU verspielt damit viel Prestige, und schlimmer noch, moralische Glaubwürdigkeit.
W. R.
Nachtrag am 6.7.2015: Die Griechen haben im Referendum gestern mit 61,3% Nein zum unsozialen Härtesparen (alias Austeritätspolitik) gesagt und damit nur konsequent bestätigt, warum sie die Regierung Tsipras von einem halben Jahr ins Amt gewählt hatten.
Nun haben die demokratischen Politiker Europas auf der anderen Seite des Verhandlungstisches in Brüssel ein Problem: Dieses deutliche demokratische Votum der Griechen kann man nicht ignorieren. Wenn man jetzt stur auf den alten Bedingungen beharrt, muss man sich vorhalten lassen, dass man den Willen des griechischen Volkes geringschätzt. Ein Schuft, wer böse dabei denkt, die Regierungschefs wollten das griechische Volk für sein Wahlverhalten bestrafen (nachdem es nicht gelungen ist, ihm seine Links-Regierung madig zu machen) und es nun am knausernden Geldautomaten zappeln lassen (koste es die Ärmeren, was es wolle).
Nein, man hat ja schon verlautet, man werde auch nach einem Staatsbankrott Griechenlands (ja sogar nach einem Grexit) seiner notleidenden Bevölkerung helfen müssen. Für die Griechen wird das, wenn man es so sehen will, eine weitere Demütigung,: Erst werden sie pauschal als faul und korrupt beschimpft, dann arm gespart, und dann an einen europäischen Almosen-Tropf gehängt. Oder wie soll das aussehen?
Man darf gespannt sein, wie die Regierenden Europas diesen Schlamassel bereinigen – an dem nicht allein die Griechen schuld sind. Das Griechenland-Problem den Finanz-Experten zu überlassen hat nicht aus dem Dilemma herausgeführt, wie man sieht. Aber ohne deren Rat Geldpolitik zu machen geht auch nicht, das zeigt zumindest die Vergangenheit: Wie sonst konnte die Einführung des Euro mit den deutlich sichtbar gewordenen Mängeln stattfinden?
Der einfache Bürger darf nur zuschauen und hoffen, dass er nicht am Ende noch eine hohe Zeche zahlen muss (wie jetzt schon die große Mehrheit der Griechen).
Hinweis: Auf >Clio / 5. „Krise, Fortschritt, Vision“ geht W. R. ausführlich und in historischer Perspektive auf die Europa-Thematik und Nationalismus ein.
Nachtrag am 28.07.2015: Wer immer noch glaubt, die Krise sei nur eine Griechenlands, und der Euro sei okay, und man könne so weitermachen wie bisher, der möge sich darauf hinweisen lassen, welche Sprengkraft die aktuelle Krise für die EU entfalten könnte: Kommentar zur Griechenland-Krise: Eine europäische Regierung ist Europas einzige Chance – Sonntag – Welt – Tagesspiegel