Archiv des Autors: Wolfgang Reinert

Safer Internet

Am 11.02.2014 notieren/feiern?/begehen? wir den „Safer Internet Day“. Was ist das? Dieser Link liefert Informationen: http://www.klicksafe.de/ueber-klicksafe/safer-internet-day/sid-2014/

Was mir zum Begriff „Safer Internet“ als Erstes einfiel, war: Ist das nicht überholt oder sogar eine Farce? Wissen wir nicht seit Edward Snowdens Enthüllungen, dass es ein sicheres Internet gar nicht gibt?

Wieviel Geld muss ein privater Nutzer für Schutzprogramme gegen Viren, Trojaner, Spyware, Phishing und all den widerwärtigen Mist ausgeben, um dann trotz aller Updates doch nicht sicher vor Ausspähung zu sein? Nicht nur die NSA, auch andere Geheimdienste rund um den Globus geben große Summen aus, um mit ihren Spezialisten in alles einzudringen und alles mitzuhören und mitzulesen, vor allem aber erstmal alles zu speichern, und falls sie irgendwann dazu kommen, es zu sichten, könnte ja was dabei sein, was sie interessiert. Und das kann unbegrenzt wirklich alles Mögliche sein – denn im Zweifel generieren diese Dienste ihre Daseinsberechtigung und die Höhe ihres Etats selbst mit ihrer Datensammelwut – koste es den Steuerzahler, was es wolle.

Da kann man verstehen, dass z.B. Iris Berben bekannt gibt, sie sei seit einiger Zeit vollständig offline, komme dafür nun öfter dazu, in Ruhe ein Buch zu lesen*, und – sieh an – werde deswegen inzwischen nicht mehr belächelt wie noch vor ein paar Jahren.

Vielleicht wird es in einigen weiteren Jahren schon große Communities von Internet-Abstinenzlern geben, die, vollständig offline, sich in „altmodischen“ Kommunikationsformen ergehen und voll Wonne Briefe schreiben, die, mit Füller in schöner Schrift auf Bütten- oder marmoriertem Papier verfasst, in schön frankierten Umschlägen verschickt werden. Und so können sie sich dann an der Entschleunigung und der ein Stück weit kreativen Gestaltung ihres Lebens erfreuen.

Was also tun mit archivwürdigem Material? Die schönen Briefe kann man über viele Jahrzehnte aufheben und bei Bedarf wieder anschauen – inzwischen sind andere, auf diversen Datenträgern gespeicherte Informationen womöglich längst unlesbar geworden, weil das Speichermedium (Videokassette, CD, Mikrofilm) nur begrenzt haltbar ist. Das macht übrigens auch sehr alte Bücher kostbar, die noch auf Papier gedruckt wurden, das sich nicht aufgrund seines Säuregehaltes zersetzt.

Wer weiß, ob man mancherorts nicht bald auf die Idee verfällt, wie im Mittelalter Skriptorien einzurichten, in denen Bücher von Hand auf Pergament kopiert werden. Aber Vorsicht: keine Eisengallus-Tinte verwenden, die frisst sich auf lange Sicht durch das Pergament und löchert es. Und keine U-Bahn vor dem Archivgebäude bauen!

Wie auch immer: Anders als die Strahlung des Atommülls haben digitale Daten ein relativ kurzes Leben. Wer seine alten Vinyl-Schallplatten noch nicht zugunsten von CDs weggeworfen hat, pflegt diese jetzt mit neuer Inbrunst. Als stolzer Offliner legt er/sie dann die alte Lieblingsmusik auf, lehnt sich bequem im alten Ohrensessel zurück und liest schöne alte Briefe, die schon als Medium eine eigene Aura ausstrahlen.

-SR-

Nachtrag zum 03.05.2014: Die noch in den 1990er Jahren verkündete und bejubelte Freiheit des Internet ist, wenn es sie so überhaupt gab, heute nur noch eine ferne Erinnerung. Weder existiert die naive Freiheit, alles kopieren und verbreiten zu dürfen (was Kulturschaffende ohnehin ablehnten, da das Copyright ihnen oft ein bescheidenes Einkommen beschert), es existiert im Zweifel auch nicht die vermeintliche Anonymität, wenn jemand sich erlaubt, ausfallende Kommentare unter Pseudonym ins Netz zu stellen oder aus dem Hinterhalt Mobbing zu betreiben.

Spätestens seit in China um 2000 die Verfasser kritischer Blogs verhaftet und ihre Websites gesperrt wurden, musste jedem intelligenten Menschen klar sein, dass autoritäre Regierungen (nicht nur in diktatorisch beherrschten Staaten) nicht nur ein gesteigertes Interesse daran haben, kritische Stimmen im Internet aufzuspüren und zu unterdrücken, sondern dass sie dieses Interesse auch mit allen Mitteln verfolgen. China setzte Google unter Druck: Ihr könnt hier nur Geld verdienen, wenn ihr mit unserem Geheimdienst kooperiert. Inzwischen lässt sogar ein „Landesvater“ wie Erdogan in der Türkei mal Facebook, mal Twitter abschalten, weil ihn dort bestimmte Beiträge ärgern.

Kurzum: Wo es keine Meinungsfreiheit gibt und die öffentliche Meinung von zensierten Medien und Regierungspropaganda bestimmt wird, da wird logischerweise auch auf das Internet zugegriffen. Safer Internet? Vorsicht: Wie im richtigen Leben, lauern auch hier Überwacher und Kriminelle, um arglose User auszuspähen und ggf. abzuzocken. Die Freiheit ist ein bunter, aber flüchtiger Vogel… —

-SR-

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* Anregungen zu lesenswerten Büchern gibt es auch auf dieser Homepage auf den Unterseiten „Die Beatus-Chronik“ und F.U.F. – Bibliothek.

13g+ 

Drei Könige

Von den Gebeinen der Heiligen Drei Könige, die als Reliquien in einem goldenen Schrein im1ba Kölner Dom liegen, war bereits die Rede*. Dennoch firmiert dieser Beitrag nicht unter „Köln-Notizen“, denn thematisch ist er universal ausgerichtet, zumindest aber Deutschland betreffend.

28+Die links abgebildete Comic-Skizze ist zwar schon über zwei Jahrzehnte alt, spiegelt aber immer noch den in Deutschland verbreiteten, populären Tenor gegenüber Ausländern wider. (Technischer Hinweis: Mit einem Mausklick auf die Abb. wird alles deutlicher und größer.)

Wir haben in Deutschland eben keine Willkommenskultur gegenüber Fremden, die Fremden sind als wenige einzelne Exoten geduldet, bei größeren Zahlen von Zuwanderung breitet sich in der eingesessenen Bevölkerung ein Bedrohungsgefühl aus.

Statistiken und Fakten mögen belegen, dass sie keine Bedrohung darstellen, diese werden jedoch weitgehend ignoriert: Die Gefühle sind stärker. In dem Fremden wird nicht der Mensch gesehen, sondern eine Bedrohung des eigenen Besitzstandes. Und was nicht bedrohlich aussieht, das wird misstrauisch beäugt, und man unterstellt verborgene Absichten.

Es gibt genügend psychologische Studien. die diese Mentalität, oder besser: Gefühlslage einer Persönlichkeitsstruktur erklären. Sie kommt bei Menschen weltweit vor. Doch scheint sie in manchen Gegenden und Ländern stärker aufzutreten.

Der Mensch hängt am Gewohnten, weil es scheinbar Sicherheit gibt, Orientierung in der eigenen Lebenswelt, ein Gefühl der Geborgenheit. Da stören bzw. verstören Menschen, die von außen kommen, von denen man annehmen muss, dass sie andere Werte und Gewohnheiten schätzen.

Einige Menschen begegnen solchen Fremden mit Neugier und Offenheit, betrachten sie sogar als Bereicherung des allzu vertrauten heimatlichen Spektrums. Doch andere reagieren mit Misstrauen und Ablehnung, wie gesagt, und verbarrikadieren sich mit Gleichgesinnten in einer mentalen Wagenburg. Sie wollen unter sich bleiben. Die Abwehr des Fremden schließt die eigenen Reihen fester zusammen.

Man findet solche Vorgänge nicht etwa nur in abgeschiedenen Dörfern, sie treten ähnlich z.B. auch im Kollegenkreis eines Betriebes in der Großstadt auf, wo sich eine Cliquenwirtschaft gebildet hat und ein Neuer erstmal nicht dazugehört. Wenn der sich nicht bald als Gleichgesinnter integriert, wird er sehr schnell zum Mobbingopfer. Die Clique tobt dabei niedere Instinkte und eigene Angst- oder Minderwertigkeitskomplexe aus, ohne sich dessen bewusst zu werden. Manche machen auch mit, um nicht selbst Mobbingopfer zu werden.

Das Fatale ist, dass ein latentes Bedrohungsgefühl durchaus berechtigt sein kann, z.B. wenn betriebsbedingte Kündigungen ins Haus stehen, dass aber kein Gegner konkret fassbar ist und die Bedrohten sich im Mobbing abreagieren, sich also eher gegenseitig das Leben noch schwerer machen. Dies scheint umso näher zu liegen, je weniger die Verunsicherten Mittel und Wege kennen, sich mit Anderen in ähnlicher Lage zusammenzutun und gemeinsam Gegenwehr zu entwickeln und zu organisieren.

Die Erzählung von den Heiligen Drei Königen mag teilweise oder ganz erfunden sein. Zu Anfang war auch von Weisen die Rede, die nach Bethlehem kamen. Vielleicht brachten sie ja Geschenke, die in anderem Sinne wertvoll waren: Weisheit, die sie Anderen mitteilten, wie: „Der Zufriedene ist immer der Reichste.“ Und vielleicht wurde später von Königen gesprochen, weil eine andere ihrer Weisheiten lautete: „Froh zu sein, bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König.“

1d-The Three Magi rocking

The Three Magi, rocking with joy

-SR-

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* im Beitrag „Wie kam Audomar nach Frechen?“ vom Juni 2013, zu finden auf der Unterseite >Frekena

13g+

2014 – ein Gedenkjahr

80aWir schreiben das Jahr 2014, die Gedenkenträger setzen die Fanfaren an und kündigen uns ein besonderes Gedenkjahr an: 1. Vor 100 Jahren, 1914, begann der Erste Weltkrieg. 2. Vor 450 Jahren wurde William Shakespeare geboren,  immer noch der berühmteste Dramatiker der Kulturgeschichte, dessen Stücke weiterhin auf den Spielplänen der Theater erscheinen. 3. Ferner gibt’s noch einiges vor x Jahren, an das auch erinnert wird. Die Medien machen ja immer groß auf mit runden Jubiläen oder Gedenkjahren.

Aber bedarf es solcher Jahresrunden, um sich an den wahrhaft schrecklichen Ersten Weltkrieg zu erinnern? Auch Shakespeare bedarf keiner Extra-Jubiläen, der Dichter ist doch omnipräsent – als Bühnenautor, als bekannte historische Persönlichkeit in allen Quizsendungen, als Lieferant von geflügelten Worten für Bildungsbürger, als das kulturelle Highlight Englands über die Jahrhunderte. (siehe auch >This Wooden O)

Der Erste Weltkrieg (1914-18) ist ein Zivilisationsbruch, er erschütterte das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der Europäer – und war auch real der Anfang vom Ende der europäischen Dominanz auf dem Globus. Allerdings war auch der Zweite Weltkrieg (1939-45) ein Zivilisationsbruch, vor allem für die deutsche Seele: Der industrialisierte Völkermord, basierend auf einer extrem menschenfeindlichen, weil rassistischen und sozialdarwinistischen Ideologie, war ein Tiefschlag für das Land der Dichter und Denker, das sich zur kulturellen Weltelite zählte. Ganz folgerichtig war Deutschland nach 1945 lange Jahre international geächtet, verfemt als Auslöser des Zweiten Weltkriegs ebenso wie als Land, das sich dazu hinreißen ließ, ein verbrecherisches, mordendes Regime zu unterstützen.

Zum Ersten Weltkrieg, der den Fortschrittsglauben in der westlichen Zivilisation erschütterte, gibt es hier auf fu-frechen.de unter >Clio den Beitrag „Apropos: Fortschritt“, der diese Dimension näher beleuchtet; er ist außerdem die Grußbotschaft des SR der F.U.F. zum Gedenkjahr. Bei dieser Gelegenheit sei auch daran erinnert, dass ein >“Gedenk- und Feierkalender der F.U.F.“ auf dieser Website unter >F.U.F. – der Club zu finden ist; und der gilt nicht nur in besonderen Jahresrunden.

W. R., 02.01.2014 13g+

Zum Beispiel: der hl. Martin

052faIn den Köln-Notizen #9 ging es u.a. um den heutigen Blick auf St. Martin und das Verständnis der moralischen Werte, für die diese Figur steht. Diese Figur ist ein Heiliger der katholischen Kirche, außerdem eine historische Persönlichkeit, die im 4. Jahrhundert lebte, in einer Zeit, in der das Christentum im Römischen Reich nicht mehr von Staats wegen verfolgt, sondern anderen Religionen  durch das Toleranzedikt Kaiser Konstantins aus dem Jahre 313 endlich gleichgestellt, und bald darauf sogar vom Staat gefördert wurde.

Streng historisch genommen lebte Martin also in der Spätantike, aber im Übergang zum Mittelalter wurde er zum Nationalheiligen des fränkischen Reiches und auch in den folgenden Jahrhunderten hoch geachtet. Dabei wurden jedoch manche Aspekte seiner Persönlichkeit ignoriert, weil sie nicht ins kirchenpolitische Konzept passten.

Martin hatte seinen eigenen Kopf und war alles Andere als ein stromlinienförmiger Mitläufer. In der berühmten Mantelteilung hängte er sein Mäntelchen gerade nicht nach dem Wind, sondern half einem frierenden Armen, ohne sich um Vorschriften zu kümmern, die ihm das untersagt hätten: Als römischem Armeeangehörigen war es ihm nicht erlaubt, Heereseigentum zu beschädigen oder zu verschenken (Das ist auch heute noch Teil der militärischen Vorschriften). Doch er zerschnitt seinen Mantel und gab dem Frierenden einen Teil, auf dass er sich vor dem kalten Wind schütze.

Die Mantelteilung ist die symbolische Handlung schlechthin, die sich mit dem Namen des heiligen Martin von Tours verbindet. Doch war das nicht die einzige Gelegenheit, bei der Martin sich als Mensch zeigte, der Menschlichkeit und Gewissen über Vorschriften, Regeln oder die Mehrheitsmeinung stellte.

Martin war wenig begeistert vom Trend der christlichen Kirche, von Konstantin und den Nachfolgern nicht nur Wohltaten anzunehmen, sondern sich dem Kaiser und dem Staat sozusagen an den Hals zu werfen und dadurch nicht nur Vorteile zu erlangen, sondern auch eine engere Verbindung mit dem römischen Staat einzugehen und Abhängigkeiten in Kauf zu nehmen.

Man kann sich vorstellen, dass die Kirche, nach der bekannten historischen Entwicklung zur Staatsreligion im Römischen Reich sowie zur engen Zusammenarbeit mit anderen Machthabern wie dem Frankenkönig Chlodwig und den Regierungen bis heute, die Vorbehalte des Martin gegen die Verquickung von Kirche und Staat nicht gern thematisierte.

Und eine weitere Stellungnahme Martins zu einer anderen Entwicklung passte dem Mainstream ebenso wenig: Als der spanische Bischof Priscillian wegen abweichender theologischer Meinungen als Ketzer zum Tode verurteilt wurde, protestierte Martin gegen diesen Beschluss. Martin teilte die Ansichten des Priscillian nicht, wehrte sich aber gegen die neue Praxis, solche Abweichler zum Tode zu verurteilen.

Leider hatte Martins Protest keinen Erfolg, vielmehr wurde es im Mittelalter gängige Praxis, als Ketzer Verurteilte öffentlich zu verbrennen. Die Kirche bzw. ein Inquisitionstribunal verurteilte (streng korrekt) nach festgelegten Kriterien den „Ketzer“, übergab ihn dann zur Vollstreckung des Urteils der weltlichen Gerichtsbarkeit, weil die Kirche „kein Blut an den Händen“ haben wollte. Und dann wurde der Scheiterhaufen angezündet. Ähnlich verfuhr man mit „Hexen“ oder „Hexern“.

Gegen den Hexenwahn und die unmenschliche Praxis der Prozesse, die in der frühen Neuzeit meist unweigerlich zum Todesurteil führten, wandte sich Friedrich Spee von Langenfeld, auch ein Mann der Kirche, in einem Buch mit dem Titel „Cautio Criminalis“ (1631). Daran sieht man: Wer pauschal „die Kirche“ für Ketzer- und Hexenverfolgung sowie andere Grausamkeiten verantwortlich macht, der übersieht, dass Viele in der Kirche moralisch sensibel waren und ihr Gewissen befragten, wodurch sie nicht nur zu kritischen Gedanken geführt wurden, sondern sich auch zu offener Kritik gedrängt fühlten.

Offene Kritik war riskant, man gefährdete nicht nur seine Karriere, man wurde oft auch verdächtigt, mit Ketzern oder Hexen zu sympathisieren. So läuft das immer in autokratischen bzw. autoritär geführten Systemen. Von da führt eine gedankliche Linie bis zu dem Katholiken Hans Küng, der als Theologe seine Kirche kritisierte und damit seine kirchliche Lehrerlaubnis riskierte. Küngs Kritik zielt vor allem auf die absolutistische Macht des Papstes über die Kirche, er favorisiert ein System erweiterter Mitsprache der Gläubigen, z.B. auch mit mehr Macht für die Konzilien, wie es sie in der Geschichte früher teilweise gab.

Kurzum: Es gibt (nicht nur in der katholischen Kirche) durchaus Menschen, die mit einem durch ihre Religion geschärften Gewissen offen ihre Meinung kundtun und sich nicht vor vorgesetzten Autoritäten wegducken. Dafür gab schon Martin von Tours ein Beispiel, das aus erklärbaren Gründen (s.o.) auf seine Mitleidstat gegenüber einem armen Frierenden reduziert wurde.

Man kann sagen: Zumindest in der heutigen Zeit, in der wir demokratische Werte hochhalten und oft von Menschenrechten reden, reicht es nicht mehr, sich stur gegen den „Zeitgeist“ zu stemmen und an Werten aus Kaisers Zeiten festzuhalten. Da müssen Christen mehr bieten als Lippenbekenntnisse, um glaubwürdig zu sein. Sturer Doktrinismus und Fundamentalismus sind keine Qualitätsmerkmale für eine Religion, die für sich beansprucht, die Menschen und ihre Nöte wirklich ernst zu nehmen. –

Quelle zu St.Martin u.a.: Martin Happ, „Die Martinslegende als ein religionsgeographisches Problem“, überarb. Fass. aus: M. Büttner (Hrsg.), Beiträge zum Geographentag in Bonn 1997, Fft./M. 1998, S. 59-88

-SR-

13g+

Mittelalter-Magazin: Kölns Raumproblem

052faDie Stadt Köln hat, wie schon in den Köln-Notizen #3 angesprochen, ein Raumproblem. Vielleicht steckt dahinter aber auch ein aus der Geschichte herrührender Komplex: Köln hatte im Mittelalter und in der Neuzeit kein Territorium außerhalb seiner Mauern, anders als etwa die Freie Reichsstadt Nürnberg.

Wenn im Buch DIE BEATUS-CHRONIK von Köln und Frechen die Rede ist und der Kölner Macht- und Einflussbereich im Mittelalter angesprochen wird, wenn Kölns Bannmeile und auch der Burgbann in einer Karte zu sehen sind (S. 163), dann verschwimmt den meisten LeserInnen das Bild von den tatsächlichen Grenzen Kölner Machtbefugnisse außerhalb seinen Mauern. Aber der Autor wollte die LeserInnen nicht mit dieser schwierigen Materie belasten, zumal ihre differenzierte Betrachtung nicht notwendig zum Kernthema jenes Buches gehört.

Um das für Interessierte aber doch einmal abzuklären, halten wir zunächst fest: Köln war, wie gesagt, eine Stadt ohne eigenes externes Territorium. Köln war umgeben von fremdem Territorium, das zum großen Teil zum Erzstift alias Kurköln gehörte (siehe Karte unten). Und dort regierte als weltlicher Fürst der Erzbischof von Köln, der auf die Stadt Köln nicht gut zu sprechen war. Grund für das seit dem Hochmittelalter meist schlechte Verhältnis waren die Querelen und Konflikte um Kompetenzen in Fragen der Rechtsprechung, der Besteuerung oder der Zölle. Es ging um die Macht, die der formale Herr der Stadt real über Köln ausüben wollte, die ihm aber die Stadtregierung zunehmend streitig machte.

In einem mehrere Jahrhunderte auf und ab schwankenden Maß hatten die Kölner dem Erzbischof das eine oder andere Recht (Privileg) abgerungen, abgeschwatzt oder als Dank für treue Dienste erhalten, so das für die Handelsstadt enorm wichtige Stapelrecht (1259). Allmählich hatte sich die Stadt ein Stück weit aus der Herrschaft und Bevormundung des Erzbischofs gelöst. Auch andere Städte versuchten im Mittelalter, sich vom Stadtherrn zu emanzipieren und politisch von ihm unabhängig zu werden. Das gelang einigen auch, sie wurden reichsunmittelbar; das bedeutete, dass sie nur den Kaiser bzw. König als Herren anerkannten.

Als der Kölner Erzbischof wieder einmal verärgert über die Kölner war, strafte er die Stadt mit neuen Zöllen, die in Zollburgen am Rhein und anderswo erhoben wurden. Er brauchte ohnehin Geld, während die Kölner auf Handel angewiesen waren, den sie aber nicht durch neue Zölle verteuert sehen wollten. Mit der Aussicht auf Zerstörung von Zollburgen waren die Kölner von den Feinden des Erzbischofs gelockt worden, ihm vor der Schlacht von Worringen (1288, mehr >Mittelalter Magazin, ~) in den Rücken zu fallen und zur Gegenseite überzulaufen.

Danach war das Verhältnis verständlicherweise nicht verbessert. Es kam zwar zu keinen großen militärischen Konfrontationen mehr, aber der Erzbischof sah sich weiter als rechtmäßigen Herrn der Stadt, und die Kölner versuchten ohne Erfolg, ihren eng begrenzten Machtbereich vor der mittelalterlichen Stadtmauer zu erweitern. Jedesmal, wenn sie Fakten schaffen wollten, schickte der Erzbischof Soldaten, z.B. als sie im Gelände vor den Toren ein Schützenfest abhielten: Die Soldaten ritten heran und lösten die Veranstaltung auf. Der Erzbischof achtete genau darauf, dass die Kölner nicht auf sein Territorium übergriffen (Becker, S. 78f.).

Wie die Karte hier eher ungenau zeigt, hatte Köln im Mittelalter und danach bis Ende des 18. Jahrhunderts zwei verschiedene Bezirke um sich her: 1. den Burgbann, einen Rechtsbezirk, der ein Stück weit vor den 13+aMauern endete, 2. die Bannmeile, die im Halbkreis um Köln mit etwa 5 km Abstand von der Mauer verlief und im Westen bis in Frechener Gebiet (Herrlichkeit Frechen) reichte.

Wie man bei Becker* ausführlich nachlesen kann, hatte der Rat der Stadt Köln aber in diesen Bereichen vor seinen Toren keine rechtlichen Befugnisse und keine politische Macht. Köln versuchte zwar immer wieder, seine Kompetenzen über das unmittelbare Vorfeld seiner Mauern hinaus auszuweiten, der Erzbischof wachte aber mit Argusaugen über die Einhaltung der Grenzen (s.o.). Dasselbe gilt für den Rhein, an dessen Ufer Köln stieß, während das gegenüberliegende Ufer mit Deutz Territorium des Erzstiftes war. Köln konnte seinen Anspruch auf den Fluss, oder wenigstens die Flussmitte als Grenze, nicht durchsetzen.

Man kann Kölns Interesse ebenso verstehen wie das des Erzbischofs: Letzterer hatte ein am Rhein langgestrecktes und gerade auf der Höhe Kölns ziemlich schmales Territorium, durch Jülichs Vogtei über die Herrlichkeit Frechen von Westen eingeschnürt (vgl. Karte oben). Da wollte er keinen Fußbreit der Stadt Köln überlassen. Er sah sich ohnehin bis zuletzt, bis zur Annexion des Linksrheinischen durch Frankreich (1802), als rechtmäßigen Oberherrn der Stadt Köln, und hatte trotz der verlorenen Schlacht bei Worringen diesen Anspruch nie aufgegeben. Köln war zwar offiziell Freie Reichsstadt geworden (vom Kaiser bestätigt 1475), hatte aber dennoch nicht die volle Souveränität, da vor allem die Burgvogtei über Köln, verbunden mit dem Hochgericht, seit 1279 wieder in der Hand des Erzbischofs war.

Auch die Gerichtshoheit in der Bannmeile ließ sich nicht durchsetzen, sie lag in den Händen Kurkölns, bzw. im Süden das Gericht Rodenkirchen in Händen Bergs, wie auch im Norden die Herrschaft Riehl, im Südwesten stand Efferen und im Westen Frechen unter der Gerichtshoheit Jülichs. Und diese starken Nachbarn ließen keine Eingriffe in ihre Rechte zu. Köln war und blieb auf sein Stadtgebiet beschränkt. Es gab auch keine kleineren Gebiete im näheren Umkreis, die Köln als territorialen Zuwachs hätte erwerben können.

Erst im 19. Jahrhundert, unter ganz anderen Voraussetzungen und ohne territoriale Umklammerung durch den Gegner Kurköln, konnte Köln sein Stadtgebiet ausdehnen und erste Dörfer im Umkreis eingemeinden. Aber da war das Mittelalter längst Geschichte, ebenso das Heilige Römische Reich mit seiner Kleinstaaterei, mit den geistlichen Fürstentümern wie Kurköln, und mit den Freien Reichsstädten. Köln war nun eine Großstadt in Preußen, und die Industrialisierung ließ seine Bevölkerung stark anwachsen. Köln machte seine mittelalterliche Stadtmauer weitgehend platt und wuchs darüber hinaus – in mehreren Schritten während des 20. Jahrhunderts bis zu einer Ausdehnung, von der man bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht einmal träumen konnte.

Derzeit liegt Kölns Stadtgebiet in den Grenzen von 1975/76, das scheint aber auf lange Sicht nicht das Ende Kölner Begehrlichkeit zu sein (vgl. W. Reinert, DIE BEATUS-CHRONIK, S. 115 u. 164). –

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* Wer sich damit ausführlicher beschäftigen will, sei auf dieses fundierte Buch verwiesen: Hans-Michael Becker, „Köln contra Köln: Von den wechselvollen Beziehungen der Stadt zu ihren Erzbischöfen und Kurfürsten.“ Köln: J.P.Bachem Verlag, 1992.

W. R.

13g+

Mittelalter: Vorsicht vor Missverständnissen

052faAn der Schwelle zum Mittelalter: Vorsicht vor Missverständnissen!

Wer sich mit Geschichte in der Epoche des Mittelalters beschäftigt, stößt mehr oder weniger schnell auf Dinge und Begriffe, die sich mit den uns heute geläufigen Vorstellungen kaum oder gar nicht in Einklang bringen lassen. Dazu gehören nicht nur mentale Bereiche wie Religion und Aberglaube, dazu gehören vor allem Rechtsverhältnisse* und gesellschaftliche Gliederungen und Regeln. Hinzu kommen politische Ordnungen, die nicht nur Hierarchien betreffen, sondern auch territoriale Zuordnungen – und damit nicht genug, auch Begriffe, die wir erst einmal gar nicht verstehen, wie Burgbann, Königsbann oder Bannmeile.

Blickt man in den historischen Atlas des mittelalterlichen Europa, sieht man Grenzlinien und verschieden gefärbte Gebiete und meint zunächst, diese Markierungen entsprächen heutigen Grenzen in politischen Landkarten. Doch da lauert schon das erste Missverständnis: Flächenstaaten und kompakte Herrschaftsgebiete sind dem Mittelalter weitgehend unbekannt, vielmehr sind „Staaten“ damals Personalverbände mit Gefolgschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen, also noch keine Staaten im modernen Sinne, die von der Grundidee des Staatsvolkes in einem Staatsgebiet ausgehen und im Idealfall** einen Nationalstaat bilden. Diese Vorstellung verbreitete sich aber erst im 19. Jahrhundert in Europa, vorher dominierten die aus dem Mittelalter überkommenen feudalen Abhängigkeitsverhältnisse.

Wer sich auf der Landkarte des Mittelalters ein Dorf herauspickt und meint, dieses stünde ganz unter der Herrschaft eines Feudalherren, der wiederum einem Fürsten oder König verpfichtet sei, kann auch hier völlig danebenliegen: Oft haben Menschen oder Besitztümer, die im selben Dorf existieren, ganz unterschiedliche Herren und Verpflichtungen. Im Extremfall kann sogar jeder Hof im Dorf einem anderen Herrn abgabepflichtig und zusätzlich noch mit besonderen Pflichten oder Rechten ausgestattet sein.

Ausgehend von der Grundherrschaft, konnte ein Hof dem König (Krondomäne), einem adligen Herren, einem Kloster oder auch einem Domstift gehören – eben allen, die Grundbesitz hatten. Komplizierter noch wird es, wenn z.B. Abgaben eines Besitzes Teil einer kirchlichen Pfründe waren, mit denen ein Pfarrer, Domherr, Bischof etc. versorgt wurde, während andere Pflichten und Rechte aber einem anderen Herren gehören, weil sie z.B. verpfändet wurden. Aus dieser Gemengelage kann sich im Laufe der Jahrhunderte ein Flickenteppich von Besitz- und Rechtsverhältnissen entwickelt haben, der ohne genaues Studium der einzelnen Verhältnisse nicht zu durchschauen ist.

Auch ein freier Besitz konnte durch Erbteilungen im Laufe der Zeit nicht nur zersplittern, sondern auch in unterschiedliche Abhängigkeiten geraten. Das Mittelalter umfasst tausend Jahre, und in dieser Zeit änderte sich Vieles. So versuchten gegen Ende des Mittelalters die Grundherren verstärkt, freibäuerlichen Besitz unter ihre Herrschaft zu bringen. In manchen Gebieten eigneten sie sich auch bisher gemeinschaftlich genutztes Land (Allmende) an, weil sie sich auf das um sich greifende römische Recht beriefen. Im Gegensatz zu germanischer Rechtstradition folgte dieses dem Grundsatz: Kein Land ohne Herren. Im Zweifel beanspruchte also der nächstgrößere adlige Feudalherr das Allmende-Land. Dies war in manchen Gegenden ein Auslöser für Bauernaufstände.

Was die Bildung von Territorien oder Herrschaftsgebieten angeht, so darf man, wie gesagt, auch da nicht mit heutigen Vorstellungen herangehen. Wenn man etwa die Entwicklung im Frankenreich im frühen Mittelalter ins Auge fasst, so stand am Anfang die Eroberung und Landnahme ehemals römischer Provinzen durch die fränkischen Stammesverbände, an deren Spitze der König als Heerführer stand.

Der Besitz an wertvollem, d.h. in erster Linie fruchtbarem Ackerland wurde bisherigen Besitzern der alten Führungsschicht weggenommen, der König verteilte es neu unter seine Gefolgsleute, wie auch sonstige Beute unter den Mitkämpfern verteilt wurde. Die besten Stücke behielt der König für sich. Er hortete nach Möglichkeit Land und Edelmetall, um daraus auch später Gefolgsleute für treue Dienste belohnen zu können.

Das große Frankenreich konnte vom König allein nicht effektiv regiert werden, er setzte Grafen ein, die für ihn Gebiete kontrollierten, indem sie vor allem die höhere Gerichtsbarkeit ausübten. Er selbst ritt möglichst viel umher, denn nur da, wo er präsent war, konnte er auch unmittelbar regieren. Dieses „Reisekönigtum“ stützte sich auf verstreut angelegte Königspfalzen, die als große Wirtschaftshöfe König und Gefolge eine Zeitlang versorgen konnten. Außerdem quartierte er sich auch bei vermögenden Adligen oder Bischöfen und bei reichen Abteien ein, die für die Versorgung und Unterhaltung der Gäste aufzukommen hatten.

Die Adligen, Bischöfe und Abteien erhielten Land als Lehen (=eine Art Leihgabe), die Kirchen und Abteien oft als Schenkungen, und daraus ergab sich in Summe das formale Herrschaftsgebiet des Königs, das Königreich. Doch konnte der König eben nicht „von oben“ beliebig in seine Gebiete hineinregieren: Die kirchlichen Besitztümer waren formal seinem Einfluss entzogen, und oft unterstellten sich Klöster direkt der Herrschaft des Papstes, ansonsten standen sie unter der Aufsicht eines Bischofs. Die Adligen trachteten schon bald danach, ihre Lehen in erblichen Besitz umzuwandeln, was ihnen auch immer häufiger gelang. Daher stützten sich die Könige des Mittelalters hauptsächlich auf das Kronland, den direkten Besitz des Königs.

Einen folgenschweren Einschnitt in dieser Entwicklung nahm Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen vor. Im Jahre 1220 trat er an die Erzbischöfe und Bischöfe eine Reihe seiner Herrschaftsrechte (Regalien) ab, um sich ihre Zustimmung zu seiner Politik zu sichern und sich mehr um seine Herrschaft in Italien kümmern zu können. Ähnlich bedachte er 1232 auch die Großen unter den weltlichen Herren des Reiches mit Privilegien. Die nutzten die Regalien sofort und ausgiebig, um ihre Herrschaft über die ihnen zu Gebote stehenden Gebiete auszubauen und zu sichern. Erst nachdem sie in diesen Gebieten weitgehend die Herrschaft übernommen hatten, kann man hier vorsichtig von ersten „Staaten“ sprechen, die zumindest weitgehend politisch unabhängig waren: Der König bzw. Kaiser hatte dort nicht mehr viel zu bestimmen.

Diese Entwicklung setzte sich in der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. (1356) fort. Im Zuge der Regelung der Kaiserwahl durch sieben Kurfürsten wurden nicht nur letztere in ihrer Macht gefestigt, sondern die Zustimmung anderer Fürsten durch Erhebung von Grafen zu Herzögen erkauft. So war der Erzbischof von Köln nun als einer der Kurfürsten festgeschrieben, während die benachbarten Grafen von Jülich und Berg zu Herzögen aufstiegen.

In Geschichtsatlanten schlägt sich das lediglich in den Bezeichnungen „Kurköln“ für das Erzstift (=weltliches Herzogtum des Erzbischofs von Köln) und „Herzogtum Jülich“ sowie „Herzogtum Berg“ nieder. Der politische Schacher um Macht und Einkünfte wird darin nicht sichtbar. Einkünfte brachte den Kurfürsten jede Kaiserwahl, da Bestechung der Wahlberechtigten durch die Kandidaten üblich war. Das setzte sich weit über das Ende des Mittelalters hinaus fort.

Im Mittelalter wurde also schrittweise die Grundlage der „Kleinstaaterei“ in Deutschland gelegt, die im 19. Jahrhundert die Bildung eines deutschen Nationalstaates behinderte. Doch enthalten wir uns hier besser einer Bewertung: Auch die Idee des Nationalstaates ist in die Jahre gekommen und wird im heutigen Europa nicht mehr durchweg als Nonplusultra (=das Allerhöchste) der historischen Entwicklung gesehen. Will sagen: Das heutige Europa handelt politisch als EU oft nicht harmonisch vereint, vielmehr sperrt sich oft nationaler Eigensinn gegen z.B. eine gemeinsame Außenpolitik.

Das Mittelalter hat aber selbst für das heutige Europa noch eine Bedeutung, die man leicht übersieht: Die Verfechter der europäischen Idee, d.h. des Zusammenwachsens zu einem vereinten oder wenigstens eng zusammenrückenden Europa, berufen sich auf die Vorstellung, dass Europa kulturell eine Einheit bildet, dass (wie vor allem bayrische Politiker gern hervorheben) im Mittelalter ein christliches Abendland entstand, das die Wurzeln eines (kulturellen) Gesamt-Europas ausmacht.

Manche loben Karl den Großen als quasi ersten Europäer hoch, weil sein Frankenreich eine übernational-europäische Idee vorgeprägt habe. Wenn man deshalb in Aachen den Karlspreis an gute Europäer verleiht, habe ich persönlich als Historiker leichte Bauchschmerzen: Hat jener Karl denn wirklich im Sinne von Völkerverständigung und einem friedlich zusammenwachsenden Europa ein Vorbild abgegeben? Daran hätten damals, im 9. Jahrhundert, nicht nur die Sachsen erhebliche Zweifel angemeldet.

Wer Karls Frankenreich im Geschichtsatlas anschaut, der gewinnt leicht einen falschen Eindruck. Die weit gespannten äußeren Grenzen umfassen keineswegs ein wohlorganisiertes, vor allem kein einfach zu regierendes Reich (s.o.). Außerdem drohte auch immer der Abfall von Gebieten, deren Herrscher sich zwar unterworfen, aber später dann doch lieber ohne Karl als Oberherrn regiert hätten. Das traf nicht nur auf Sachsen zu.

Dieses Reich war eben nicht vergleichbar mit dem Römischen Reich, das als Vielvölkerstaat und großer Wirtschaftsraum mit gut gepflegten Verkehrswegen und einheitlicher Währung doch eher als Vorbild Europas taugen könnte – aber eben auch zusammenerobert war und ohne neue Eroberungen fast zwangsläufig in strukturelle Krisen geriet.

Nun, wie auch immer, Geschichte wiederholt sich nicht, und historische Vergleiche hinken schon deshalb. Im Mittelalter jedenfalls wurde der Begriff „Europa“ so gut wie gar nicht verwendet, eher spielte die Idee des christlichen Kaiserreiches eine Rolle, des „Heiligen Römischen Reichs“ in Nachfolge des weströmischen Kaiserreichs. Dessen Grenzen waren noch weniger europa-umgreifend als die des o.a. Karls-Reiches, und hier gilt auch: Was im Geschichtsatlas als zum Reich gehörend gekennzeichnet ist, ist nicht immer fester Bestandteil.

Kurzum: Wer Vorbilder oder Vergleiche aus der Mittelalter-Kiste hervorholt, sollte sich gut informieren und die zahlreichen Schwellen beachten, die wir überwinden müssen, ehe wir die Verhältnisse jener Zeit richtig verstehen können. Das aber ist nicht einfach, wir sind auf die Arbeit von Spezialisten angewiesen, die uns das möglichst nachvollziehbar erklären. Dagegen mag ein Besuch auf einem Mittelalter-Markt unterhaltsam sein, er erklärt uns aber bestenfalls – und anschaulich – ein paar Dinge aus der praktischen Lebenswelt der damals lebenden Menschen.

Der Mittelalter-Markt ist aber in erster Linie eine kommerzielle Veranstaltung, die eher an die Vorstellungen des Publikums anknüpft, als ihm bis dahin fremde Welten realitätsnah zu zeigen. Damit die Besucher nicht weggbleiben, muss man Kompromisse machen, z.B. sprachliche: Die altertümlich klingenden Wendungen, die Akteure in mittelalterlicher „Gewandung“  in der Ansprache des Publikums benutzen, sind eine Kunstsprache mit Elementen aus höfischen Floskeln des 18. Jahrhunderts. Das klingt dem Publikum aus irgendwelchen Romanen oder Hollywood-Filmen noch halbwegs vertraut. Man kann ihm aber keine „Originalsprache“ des Mittelalters zumuten – soweit man sie nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis korrekt aussprechen könnte – und z.B. eine Variante des Mittelhochdeutschen verwenden. Das würde in den allermeisten Ohren wie eine Fremdsprache klingen.

Ähnliches gilt für die Betrachtung der Bildwelten des Mittelalters, wo es eine uns weitgehend fremd gewordenen Symbolsprache zu entschlüsseln gilt. Noch am Ausgang des Mittelalters, als in  Italien längst die Renaissance Einzug gehalten hat, entstehen in Deutschland Kunstwerke (z.B. von Cranach oder Dürer), die man ohne besondere Kenntnis der mittelalterlichen Symbolik (und selbstredend der Bibel) nicht deuten kann.

Diese Warnung vor Missverständnissen soll niemanden abschrecken, sich mit dem Mittelalter zu beschäftigen, im Gegenteil; aber man darf keine vorschnellen Vergleiche mit der heutigen Lebenswelt ziehen, man muss vielmehr beachten: Vieles hat sich äußerlich wie inhaltlich stark verändert. Am wenigsten trifft dies auf die Natur des Menschen zu, denn die Evolution verändert ihn vielleicht ein wenig in Zehntausenden von Jahren, wenn überhaupt, während die von ihm entwickelte technische Zivilisation der Evolution immer schneller davoneilt. –

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* Wer sich einen Begriff von der Unübersichtlichkeit der Rechtsverhältnisse im Mittetalter machen will, lese Dietmars zusammenfassende Darstellung am Beispiel Köln: „Das Kölner Gerichtswesen im Mittelalter“, in: Carl Dietmar, Das mittelalterliche Köln. Köln: J.P.Bachem Verlag, 2004, S. 35-39. — Auch am Beispiel „Universitas“ und „Universität“ kann man große Unterschiede zwischen den Verhältnissen des Mittelalters und den heutigen erkennen. Siehe dazu ausführlich den Beitrag in der Unterseite „F.U.F. – der Club“, dort weit unten zu finden.

** „Idealfall“ ist hier nicht als Wertung zu verstehen: Wie es den Menschen in einem Staat geht, hat nicht allein mit der Staatsform zu tun. So gibt es Nationalstaaten, die eine homogene Nation künstlich herbeizwingen wollen und deshalb ihren Minderheiten deren eigene Sprache und kulturelle Identität verbieten. Derartige Staatswesen sind keineswegs als Ideal geeignet! Wünschenswert sind eher Staaten, die sich ohne ideologische Überhöhung erst einmal als Organisationsform betrachten, die allen Staatsbürgern ein erträgliches Leben ermöglichen wollen, und daher Interessengegensätze auszugleichen suchen, anstatt die Interessen einer Bevölkerungsgruppe gegen andere durchzusetzen. Diese Einstellung ist auch nach außen, gegenüber anderen Staaten, die beste Voraussetzung für ein friedliches Miteinander.

W. R.

13g+

Köln-Notizen #7

50Es ist der 6. August, ein besonderes Datum, das man nicht so leicht vergisst. An diesem Tag im Jahr 1945 fand der erste Einsatz einer Atombombe statt, sie wurde über der japanischen Großstadt Hiroshima abgeworfen mit dem Ziel, möglichst viel Zerstörung und Tod anzurichten und möglichst großen Schrecken zu verbreiten.

In Köln, zwischen dem Japanischen Kulturinstitut am Aachener Weiher und der Universität, heißt ein Park seit einigen Jahren Hiroshima-Nagasaki-Park. Über Nagasaki wurde ein paar Tage nach der ersten die zweite Atombombe abgeworfen.

Eigentlich nennt man so etwas Terror. Aber hier handelt es sich ja um Maßnahmen eines mächtigen Staates, und der hatte ja erklärtermaßen nur Gutes im Sinn: Man wollte möglichst wenige Menschenleben opfern, wohlgemerkt die Leben amerikanischer Soldaten, während man Japan zur Kapitulation zwang. Also musste Japan mit einem Riesenschock zum Aufgeben gezwungen werden, einem Schock, ausgelöst durch das schlagartige Auslöschen sehr vieler Leben japanischer Zivilisten. Nebenbei waren zumindest die beteiligten Wissenschaftler und Techniker daran interessiert, bei diesem ersten Kriegseinsatz der A-Bombe die realen Auswirkungen zu beobachten, also: einen Test auf Feindesgebiet durchzuführen.

Die realen Auswirkungen – wir kennen wohl alle die Filmaufnahmen, die Tage später im zerstörten Zentrum von Hiroshima gedreht wurden – sind mit Worten kaum zu fassen und mit keinem vorherigen Waffeneinsatz vergleichbar. Die Menschen waren nicht vorgewarnt, und bis heute sind die Spätfolgen, die schweren Erkrankungen tausender verstrahlter Menschen, an denen die meisten längst vorzeitig verstorben sind, in Japan präsent.

Umso eindringlicher appellierten viele Demonstranten in Japan nach dem Reaktor-GAU von Fukushima, die Gefahren im Umgang mit Atomkraft nicht herunterzuspielen. Aber die Politik und die Betreiber von Atomkraftwerken sträuben sich dagegen, ihre gut geölte Verzahnung, die über Jahrzehnte den Ausbau der Nutzung von  Atomkraft den Japanern als notwendig und sicher verkauft hat, zu revidieren und z.B. Kurs auf den Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien zu nehmen.

Merkwürdigerweise wurden die an den Spätfolgen leidenden Opfer von Hiroshima und Nagasaki jahrzehntelang in der Öffentlichkeit eher versteckt und fast wie Unpersonen behandelt. Warum? 1. Sie erinnerten die Japaner an die schwere Niederlage am Ende des Zweiten Weltkrieges. 2. Sie erinnerten an die gefährlichen Wirkungen freigesetzter radioaktiver Strahlung, und die wollte man von offizieller Seite möglichst verdrängen.

Man lernt daraus, wie nicht nur von Einzelpersonen, sondern auch kollektiv von ganzen Nationen unangenehme Erinnerungen verdrängt werden können. Das gibt es nicht nur in Japan, sondern überall auf der Welt, wo Menschen sich schwer damit tun, sich einer schmerzlichen Wahrheit zu stellen. (siehe auch >Köln-Notizen #4)

In Deutschland hatten wir z.B. die von Hindenburg freigesetzte Dolchstoßlegende: Der Erste Weltkrieg sei nicht durch eine militärische Niederlage verloren gegangen, die Hindenburg &Co zu verantworten hatten, sondern die Revolutionäre in der Heimat hätten der deutschen Front von hinten einen Dolchstoß versetzt und damit die Niederlage verschuldet. Hindenburg log sich und Ludendorff damit aus der Verantwortung und belastete für die Folgezeit das politische Klima der Weimarer Republik. Und viele Deutsche glaubten gern, dass ihre Helden-Armee „im Felde unbesiegt“ gewesen sei. Sie wählten Hindenburg später sogar zum Reichspräsidenten!

Nach diesem Muster versuchten sich in Deutschland immer wieder braun-verseuchte Köpfe an der Konstruktion einer „Auschwitz-Legende“. Nach dem Verdrängungs- und Nicht-Wahrhaben-Wollen-Prinzip wurden die Opferzahlen der Nazi-Mordindustrie heruntergespielt. Man baute darauf, dass viele Menschen gerne die verbrecherische Grundrichtung des Nazi-Regimes verdrängen wollten. Das hat aber nur bei Wenigen funktioniert.

Übrigens darf man froh sein, dass Hitler nicht über die Atombombe verfügte. Er hätte seinen Satz „Wir werden ihre Städte ausradieren“ hemmungslos in die Tat umgesetzt. Man darf froh sein, dass der Zweite Weltkrieg in Europa schon im Mai 1945 mit der deutschen Kapitulation zu Ende war – sonst hätten die USA die Bombe zuerst bei uns eingesetzt.

Man lernt daraus – oder sollte das zumindest daraus lernen: Krieg ist Mist, und wem immer er im Einzelfall auch Nutzen bringen mag, die Verlierer und Leidtragenden sind immer die große Mehrheit der Menschen. Das haben wenigstens die Menschen in Europa weitgehend kapiert. Und darum hat Köln auch einen Friedenspark: Den findet man am Ende der Südstadt in Rheinnähe, wo vom ehemaligen preußischen Befestigungsgürtel Kölns ein Fort übriggeblieben ist. Wenn man dort spazierengeht, den Frieden genießt und die Kinder spielen sieht, dann wird einem wohler.

W. R.

13g+

Als Irland Westeuropas Kultur befruchtete

052Wenig bekannt ist vielen historisch Interessierten, dass es in Europa eine Zeit gab, in der weniger die Parole „Ex oriente lux“ (Aus dem Osten Licht) galt, sondern vielmehr die kulturelle Entwicklung und Weitergabe antiker Gelehrsamkeit sehr von der frühchristlichen Kultur Irlands beeinflusst und geprägt wurde.

Keltisches Hochkreuz, Irland, frühes Mittelalter

Keltisches Hochkreuz, Irland, frühes Mittelalter

Für die Zeit des angehenden Mittelalters sagt Geoffrey Ashe (1976) über Irland: „Soon Erin was the most cultured land of Western Europe: the only one, for instance, where any appreciable number knew Greek.“ Kein Wunder also, dass Missionare aus Irland nach Großbritannien und zum Kontinent ausschwärmten, Christentum und Kultur im Gepäck (s. auch Karten in: DIE BEATUS-CHRONIK, S. 159f.). In der Buchmalerei der westeuropäischen Klöster dominierte der ornamentale Stil der Iren, und Karl der Große betraute den in der irischen Tradition geschulten Alcuin von York mit kulturellen Projekten, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Vom sogenannten (!) „finsteren“ Mittelalter konnte also, was die Hochkultur und die Welt der Gelehrten anging, im Irland des frühen Mittelalters überhaupt keine Rede sein. Bei Ashe findet auch ein irischer Mönch Erwähnung „… named Ferghil or Virgil, [who] became bishop of Salzburg and caused a stir by teaching that the earth is round and that other inhabited worlds exist.“ Offenbar waren das Dinge, die Andere damals nicht zu denken wagten.

Ferghil hingegen brachte diese Gedanken aus seinen Studien antiker Literatur mit, die in Irlands Klöstern bewahrt und per Kopie vervielfältigt wurde. Später wurde in Europa Vieles davon als teuflisches Machwerk vernichtet, Abschriften antiker Texte auf Pergament wurden ausradiert und als Palimpsest mit christlicher Literatur neu beschrieben. Noch im Laufe des Mittelalters gingen so etliche Werke antiker Autoren verloren. Von vielen dieser Werke kennt man nur noch die Titel oder kurze Textstellen, die von anderen Autoren in erhaltenen Schriften zitiert wurden.

Die Beatus-Chronik wirft zu Beginn einen Blick auf die Rolle Irlands im frühen Mittelalter (DIE BEATUS-CHRONIK, S. 17). Dem Chronisten lag wohl daran, die Ursprünge einer Bildungs-Tradition darzustellen, in der auch die seinerzeit (um 1300) geplante Universitätsgründung in Frechen stehen sollte.

-SR-13g+

Köln-Notizen #5

50

„Historiker entsetzt über Stadt Köln“, überschreibt der KStA von Dienstag, 16.07.2013, auf S.22 seinen Bericht über den Skandal um die Planung zum Neubau des Kölner Stadtarchivs. Aus der Presse-mitteilung nationaler Verbände von Archivaren und Historikern wird u.a. zitiert: „In einem unwürdigen Schauspiel begräbt die Stadt Köln ihr Stadtarchiv ein zweites Mal, diesmal im letztlich undurchschaubaren Gewirr ihrer Entscheidungen.“ Offenbar sei den Verantwortlichen die Tragweite ihrer Hinhaltepolitik in keiner Weise bewusst.

Wir haben zur Sache schon in den Köln-Notizen #1 berichtet, und unser Kommentar dort (neben dem Bild) hat leider weiterhin Gültigkeit.

W. R.

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Köln-Notizen #4

50Das zerbombte Köln 1945 – wer kennt sie nicht, diese Fotos von der verheerten Trümmerlandschaft, aus der nur der Dom scheinbar unversehrt herausragt? Die Innenstadt war nicht mehr wiederzuerkennen. Das Entsetzen steckte allen Kölnern in den Knochen, die den Krieg und seine Schrecken überlebt hatten und in ihre Heimatstadt zurückkehrten. Da war es für viele wohl ein zu großer seelischer Kraftakt, auch noch zuzugeben, dass sie die Katastrophe mitverschuldet hatten durch ihre Duldung oder Unterstützung des NS-Regimes.

Im Kölner Stadt-Anzeiger von heute, 08.07.2013, beschreibt Carl Dietmar ganzseitig den Umgang der Kölner mit dieser seelischen Belastung. Insbesondere geht er der Frage nach, wie es zu der Nachkriegslegende kam, Köln sei ein Hort des Widerstandes gewesen, in dieser Stadt habe es stärkere Vorbehalte gegen Hitler gegeben als in vielen anderen deutschen Großstädten. Dietmar stellt fest:

Die überwiegende Mehrheit der Kölner hat die NS-Herrschaft, wenn auch unter beispiellosem systemimmanentem und kollektiven Druck, mehr oder weniger widerspruchslos hingenommen – oder angepasst mitgetragen.

Im anschließenden Gespräch Dietmars mit Werner Jung, dem Leiter des Kölner NS-Dokumentationszentrums, liest man, dass die Aufarbeitung von Schuld bei der großen Masse schnell in den Hintergrund gedrängt wurde, weil man den Aufbau eines neuen, demokratischen Gemeinwesens angehen musste und nicht Millionen von „Belasteten“ wegen ihrer Parteimitgliedschaft in der NSDAP einfach ausschließen konnte: Es bestand eine personelle Kontinuität in fast allen Bereichen, und diese Kontinuität machte dann, erst recht in der Phase von Kaltem Krieg und Wirtschaftswunder, das konsequente Verdrängen der Vergangenheit möglich.

Carl Dietmar hat in einem früheren Artikel schon gezeigt, dass man im Kölner Karneval diese Widerstandslegende pflegte und dabei verdrängte, wie wenig tatsächlich der Vereinnahmung durch die Nazis entgegengesetzt wurde, und das auch eher nur im organisatorischen, formalen Bereich.

Wir, die wir heute in bequemer Distanz, mit mehr Hintergrundinformation und in einem völlig anderen gesellschaftlichen und politischen Umfeld urteilen können, sollten uns nicht zu einer schnellen, hämischen Verurteilung der damals erwachsenen Menschen hinreißen lassen. Verdrängung von unbequemer oder kaum zu ertragender seelischer Belastung ist ein menschliches Phänomen, das wahrlich nicht auf Köln oder die Nachkriegszeit beschränkt ist.

Noch in den Jahren um 2000 regten sich viele, vor allem ältere Deutsche über die damalige Wehrmachtsausstellung auf, die der Beteiligung regulärer Soldaten (nicht SS etc.) an Gräueltaten und Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg besondere Aufmerksamkeit widmete und damit der Legende entgegentrat, die Wehrmacht sei „sauber“ geblieben und habe sich nicht in die Verbrechen des Regimes verstrickt.

Das ist nicht auf Deutschland beschränkt, Menschen in anderen Ländern verdrängen solch unbequeme Wahrheiten auch ganz gern. Das ist z.T. eine Folge der üblichen Kriegspropaganda: Unsere Jungs kämpfen auf der richtigen Seite, wir sind die „Guten“, dagegen die zu Feinden erklärten Anderen die „Bösen“. Dieses Schwarz-Weiß-Schema ist eine Beleidigung für jeden intakten Verstand, hilft aber dem Oberkommando bei der Emotionalisierung der eigenen Bevölkerung, die dabei ihre eigene Erfahrung und Menschenkenntnis vergessen soll.

Als z.B. eine Fernseh-Dokumentaton der BBC über das Massaker von Srebenica (1995) nach 2000 im serbischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, ging ein Aufschrei der Empörung durch das Land: Unsere jungen Helden haben so etwas nicht getan — sie haben nur für die heilige serbische Nation gekämpft!

Es hat einige Zeit gedauert, bis verständige Leute wenigstens einen Teil ihrer serbischen Landsleute davon überzeugen konnten, zumindest einen Teil dieser Verbrechen für wahr zu halten: Serbische Soldaten (bzw. Milizionäre) unter dem Kommando des Generals Mladic hatten ca. 8000 unbewaffnete männliche Personen aus Srebenica mitgenommen und auf einem Marsch im Gelände umgebracht (Näheres >Wikipedia >Massaker von Srebenica). Mladic befahl diese Aktion gezielt, um Feindschaft zu vertiefen und spätere Versöhnung zu torpedieren.

Menschen laden bisweilen Schuld auf sich, indem sie unkritisch einer Fahne hinterherlaufen und ihren Verstand ebenso wie ihren Fähigkeit zum Mitgefühl (Empathie) zurücklassen. Falls sie später Verstand und Empathie wiederfinden und zur Einsicht kommen, finden sie meist selbst schrecklich, wozu sie sich haben hinreißen lassen, und verdrängen es. Wenn nicht, zerbrechen sie an ihrer Schuld — oder bleiben fanatische Rechtfertiger der unter dieser Fahne begangenen Missetaten.

Der sinnvolle Weg zur Heilung dessen, was sich nicht ungeschehen machen lässt, ist die Aufarbeitung der Schuld, indem man sich den Tatsachen stellt, indem man, statt totzuschweigen, im Gespräch das Belastende benennt, sich damit auseinandersetzt, und lernt, damit zu leben. Das hört sich leichter an, als es für Betroffene ist. Darum flüchten Viele lieber in die Verdrängung. So gibt es z.B. immer noch Menschen, die den Holocaust leugnen oder die Zahl der Opfer nicht anerkennen wollen. Sie erkennen nicht einmal, dass sie selbst Opfer sind — von Täuschung und Selbsttäuschung.

Sich den Tatsachen stellen heißt auch: Wahrhaben, dass man Mitmenschen Empathie und menschliche Solidarität verweigert hat, dass man sie als „Feinde“ entmenschlicht und sie kaltherzig zu Opfern gemacht hat. Und dass man damit sich selbst ein Stück Menschlichkeit genommen hat.

W. R.

13g+