Archiv des Autors: Wolfgang Reinert

„Drah di net um…“

Noch vor einigen Tagen dachte ich, Trump und Erdogan wetteiferten darum, wer von beiden das größte Rumpelstilzchen in der Politik sei. Doch seit gestern muss ich zugeben: Erdogan liegt eindeutig vorn mit seiner Drohung an alle Europäer, sie sollten sich in Acht nehmen, wenn sie raus auf die Straße gehen… Erdogan droht: “Kein Europäer wird mehr sicher sein”
Da kann man nur noch das Lied von Falco (leicht abgewandelt) singen: „Drah di net um, der Erdogan geht um…“ Wobei der hier nicht den Kommissar, sondern eher den Mafia-Boss gibt.*
Gar nicht lustig finden das mit Sicherheit alle, die in der Türkei mit Urlaubern aus Europa Geld verdienen. Erdogan zieht die türkische Wirtschaft damit weiter nach unten.

Mich beschleicht der Gedanke, dass wir diesem Möchtegern-Sultan eines Tages im Rückblick noch dankbar sein könnten, weil er das populistische „Starker-Mann“-Schema dermaßen überstrapaziert und ad absurdum führt, dass man es nur noch lächerlich finden kann.

Erdogans schon längst autokratisches Regieren hat zwar die Gefängnisse statt mit Kriminellen mit politischen Gefangenen gefüllt, aber den Terror hat er im Lande weder verhindert noch besiegt (Sogar der russische Botschafter wurde im Dezember 2016 auf offener Bühne ermordet). By the way: Wie nennt man eigentlich jemanden, der die Bevölkerung der ganzen EU bedroht? Dieser Mann ist doch wohl mit dem Ausdruck zu bezeichnen, mit dem er selbst so gern um sich wirft, um seine Kritiker zu kriminalisieren: Terrorist. Sorry, was denn sonst? —
Unser neuer Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 22.3.2017 in seiner Antrittsrede im Bundestag klare Worte gesprochen. Gut so! Die ganze Rede zum Nachlesen >Steinmeiers Antrittsrede im Wortlaut – Politik – Süddeutsche.de

W. R. (ein Europäer)

* Das Original kann man hier hören >Falco – Der Kommissar – YouTube

Nachtrag vom 23.04.2017: In den Rumpelstilzchen-Wettbewerb hat sich nun auch Nordkoreas Gottkönig Kim Jong Un eingeschaltet. Er droht Australien mit dem Einsatz seiner Atomwaffen und zeigt sich als ein Vertreter des Diktatorentyps „Kraftmeier&Sprücheklopfer“. In der Sportart „Personenkult“ ist er seit langem Weltmeister. Aber trotz der schönen Satire-Vorlagen sollte man nicht vergessen, dass er nach dem Vorbild Stalins keine starken Figuren neben sich duldet; und er versteht keinen Spaß. Bei ihm gibt es z.B. auch einen Schießbefehl auf Menschen, die seinem Machtbereich entfliehen wollen.

Köln-Notizen März-2017

Während die diesjährige LitCologne zu Ende ging, legte Oberbürgermeisterin Henriette Reker feierlich am Eifelwall den Grundstein für den Neubau des Historischen Archivs der Stadt Köln. Als erstes Stadtoberhaupt hatte sie am 3.3. auch an der Gedenkfeier für den Archiveinsturz und seine drei Opfer teilgenommen und dort gesprochen. Kurz zuvor hatte der Stadtrat die Schenkung des Hinweisschildes (s. Foto links) angenommen, das Mischa Kuball für den Einsturzort entworfen hatte.
Auf der Gedenkfeier wurde auch das Stück „Kölner Klagegesang“ aufgeführt; mehr dazu >ArchivKomplex ist eine Webseite von Künstlern und Architekten zum Archiveinsturz in Köln   Auch der S.R. der FUF wohnte der Feier bei und machte ein paar Fotos.

Da man immer von zwei Todesopfern des Einsturz hörte, nämlich den beiden jungen Männern Khalil (24) und Kevin (17), dabei aber ein weiterer Mensch vergessen wurde, der indirekt auch Opfer des Einsturzes war, brachte der Kölner Stadt-Anzeiger am 3.3. einen ausführlichen Nachruf auf Josefine Borcilo (84): Sie verlor zunächst durch den Einsturz ihre Wohnung, wurde in einem Hotel untergebracht, verlor einige Tage später auch ihren Lebensmut und schied aus dem Leben, ohne die schon bereitstehende neue Wohnung zu beziehen. Mehr > Kölner Stadtarchiv: Nachruf auf Josefine Borcilo: Die wunde Seele vom Waidmarkt kam nicht zur Ruhe | Kölner Stadt-Anzeiger

Foto oben links: 2 der (lesenswerten!) Infotafeln zum Ereignis 2009 (Bild anklicken!) —– rechts: Die Anwesenden lauschen dem „Kölner Klagegesang“ während der Gedenkfeier am Einsturzort.

S. R.

Aktueller Nachtrag am 26.05.2017: Nach Berichten des Kölner Stadt-Anzeigers im Mai 2017 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage „wegen fahrlässiger Tötung und  Baugefährdung“ gegen mehrere Personen, die am Bau und an der Bauaufsicht beteiligt waren. Anscheinend führten unter Zeitdruck schlampig ausgeführte Arbeiten an Teilen der Schlitzwand in über 20m Tiefe sowie Vertuschung und mangelnde Kontrolle durch die Bauaufsicht zum Schlamm- und Gerölleinbruch, der dem Stadtarchiv den Untergrund entzog und zum Einsturz führte. Mehr und Genaueres >Archiveinsturz Köln: Vorwürfe an Baufirma und Kölner Verkehrsbetriebe wegen Baugefährdung | Kölner Stadt-Anzeiger

Aktueller Nachtrag am 11.12.2019: Um auf dem Laufenden zu bleiben, hier ein Link zum Stand der Arbeiten am Neubau des Kölner Stadtarchivs >Köln: Arbeiten am neuen Historischen Archiv schreiten voran | Kölner Stadt-Anzeiger

Geld, lange Yachten, und Bildung

Das Engagement vermögender Leute für Bildung und soziale Projekte lässt auf die Zukunft der Menschheit hoffen, die ansonsten düster aussähe… z.B. indem die zunehmend Superreichen, abgekoppelt vom Leben der weniger Betuchten und Armen, sich nach dem Privatjet noch eine weitere, diesmal 42m lange Yacht leisten, weil der Nachbar eine 38m lange am Anleger vertäut (und auch keine bessere Idee hat, wie er seine nicht benötigten zig Millionen ausgeben könnte). Aber lassen wir das schwere Leben der Superreichen beiseite und fragen uns, wie die öffentlichen Aufgaben der Daseinsvorsorge von meist verschuldeten Gemeinden, Städten, Ländern und dem Bund finanziert werden sollen, wo doch ständig Geld in Steueroasen abfließt und die o.g. weniger betuchten und armen Steuerzahler* nicht beliebig hoch belastet werden können.

Zur Daseinsvorsorge gehören das Gesundheitssystem, die Verkehrs-Infrastruktur, das Bildungswesen, die Trinkwasserversorgung, die Abwasserentsorgung und -klärung, und einiges mehr. Diese Dinge werden von Allen genutzt, aber nicht von Allen finanziert. (Wie das? Es gibt z.B. Firmen, die in Deutschland verdientes Geld nicht hier versteuern, aber gern die hier bereitstehende Infrastruktur nutzen.)

Es ist ja erklärtermaßen auch ein Anliegen der F.U.F., Bildung und das Interesse daran zu fördern und zu ermuntern. Darum wird auf fu-frechen.de Einiges an Information und Bildung  geboten — kostenlos (und werbefrei!). Aber auch Andere tun was: Es gibt Stiftungen wie den Kölner Gymnasial- und Stiftungsfond, die dort unterstützend wirken, wo finanzielle und soziale Hindernisse jungen Leuten sonst keine Chance ließen, ihren Begabungen gemäß Schule und Studium zu absolvieren.**
Wir erinnern uns, dass wir regelmäßig in offiziellen Berichten lesen, wie sehr besonders in Deutschland Bildung und berufliche Karriere oft mit sozialer Herkunft zusammenhängen, also Menschen aus schwierigeren sozialen Verhältnissen oder „bildungsfernen Schichten“ gegen Benachteiligungen und Vorurteile anzukämpfen haben und deutlich seltener „höhere“ Bildung und beruflichen Aufstieg erreichen.
Wo es in Elternhäusern (warum auch immer) an Anregung fehlt, müssen vermehrt Anreiz und Förderung von außen dazu beitragen, dass Neugier und Wissensdurst junger Menschen nicht nur geweckt, sondern in anhaltende Lernmotivation gelenkt und gezielt gefüttert werden. Dazu ist offenbar das aktuelle deutsche Bildungssystem nicht flächendeckend in der Lage. (Und das war es schon nicht, bevor vermehrt Flüchtlinge ihren Fuß auf deutschen Boden setzten.)
Kurzum, es tut nicht nur den Geförderten gut, sondern auf lange Sicht auch dem ganzen Land, wenn sich eine gebildete Schicht nicht nur ständig selbst reproduziert, sondern wenn Talente aus allen Schichten der Gesellschaft gefördert und ausgebildet werden, sodass sie auch anspruchsvolle Tätigkeiten mit der erforderlichen Qualifikation ausüben können.

Was wir unter „Bildung“ verstehen, sollte noch einmal klargestellt werden: Es geht nicht allein um Grundlagen- und Fachwissen, das bestimmte Institutionen der Wirtschaft von Schulabgängern und Hochschulabsolventen erwarten. Zur Bildung gehört auch Persönlichkeitsbildung, also auch nicht speziell berufs- und laufbahnbezogene Qualifikationen, die zur menschlichen Entwicklung und Reife beitragen und dem Blick in die Welt einen weiteren Horizont geben, als es eine schmalspurige Ausbildung ermöglicht.

Schließlich liegt es auch im Interesse des Staates, dass seine heranwachsenden BürgerInnen auch ein gewisses Maß an politischer Bildung mitbekommen, damit sie ihr Wahlrecht ausüben und sich ggf. sinnvoll politisch oder sozial engagieren können (späterer Ausbau dieser Bildung nicht ausgeschlossen).

Sinnvolles Engagement für die Gesellschaft/für die Allgemeinheit/für Alle ist sogar manchen der o.g. Superreichen Einiges wert: Sie spenden für soziale Organisationen, gründen selbst Stiftungen, oder finanzieren direkt Schulen in benachteiligten Regionen, oder ähnliche Projekte. Das sind die Menschen, die den höchsten Sinn des Lebens nicht im maßlosen Horten von Reichtümern sehen. Bei denen hat die früher erfahrene Persönlichkeitsbildung zu der Einsicht geführt, dass es befriedigender sein kann, in die glücklichen Augen einiger Menschen zu schauen, denen man helfen konnte, als dem uferlosen materiellen Egoismus zu frönen und eine kaum genutzte Hochseejacht am Kai dümpeln zu lassen. ***

W. R.

* „Wieso arme Steuerzahler?“ denkt jetzt vielleicht manch Eine/r und meint, arme und arbeitslose Leute ohne Einkommen zahlten doch gar keine Steuern. Denkste! Gerade die Ärmsten werden z.B. durch die Mehrwertsteuer stark belastet, die ja bei jedem Einkauf, jeder Handwerkerrechnung usw. fällig ist. Die 19% MWSt zahlt in Deutschland auch der Ärmste, wobei für bestimmte Waren der ermäßigte Steuersatz von 7% gilt. Sie wird auf jedem Kassenbon und jeder Rechnung gesondert ausgewiesen. Wer wenig im Portemonnaie hat und scharf rechnen muss, ist davon proportional härter getroffen als jemand, der gar nicht auf’s Geld schauen muss und immer Plus auf dem Konto hat. Denn anders als etwa die Einkommensteuer kennt die MWSt als Verbrauchssteuer keine Progression. Übrigens ist die Steuer- und Abgabenbelastung nach neuesten Berechnungen in Deutschland vergleichsweise hoch, und das trifft am meisten die niedrigen und mittleren Einkommen, insbesondere Alleinstehende des Mittelstandes (Das nur zur vollständigen Information).

** Kölner Stadt-Anzeiger, 22.02.2017, Ausgabe Köln S. 28: C. Schminke, „Per Stiftung zum  Studium“

*** Dazu als Nachtrag am 06.11.2017 ein Kommentar: Paradise Papers: Zur Hölle mit den Reichen – Kolumne – SPIEGEL ONLINE

Der Chaot im Weißen Haus

Eigentlich steht hier im Blog über Donald Trump schon alles Wesentliche geschrieben. Einzig der aktuelle Blamage-Faktor von Trumps Tweets und verkündeten Maßnahmen ist noch steigerungsfähig. Peinlich? Ein zu schwaches Wort! Er zeigt den Ehrgeiz, als ultimativer Fake-Präsident in die Geschichte einzugehen: 1. Fake als politikunfähiger Präsidenten-Darsteller, und 2. Fake als König der erfundenen Nachrichten.
Was für ein Mensch Trump ist, war zumindest vielen Amerikanern in Kalifornien schon seit den 1980er Jahren bekannt. So knöpfte sich z.B. der berühmte Underground-Comiczeichner Robert Crumb in einer Geschichte den egomanen, machtbesessenen Immobilien-Mogul vor.* Aber bei denen, die ihn 2016 wählten, kam er mit seiner kurzatmigen Sprache (kurze, oft unvollständige Sätze, viele Wiederholungen) und seinen Ausfällen gegen Alles und Jeden gut an — so gut, dass er auch einen Monat nach Amtsantritt noch nicht aus dem Wahlkampfmodus herausgekommen ist und weiter Attacken und „alternative Fakten“ ausspuckt: Die Medien, die ihn kritisieren oder seine Äußerungen korrigieren, sind nicht nur seine Feinde, sondern „Feinde des amerikanischen Volkes“!

Ein Präsident, der wie in seinem Wahlkampf weiter auf Spaltung und Konfrontation setzt, der pöbelt und beleidigt und sich nicht die Mühe macht, ein wenig staatsmännisch zu erscheinen, der die Verfassung geringschätzt, wo sie seinem Ego im Wege steht — wo soll das noch hinführen?

Man fürchtet bereits, dass er vorhat, vier Jahre Dauerwahlkampf zu machen. Was soll er auch tun, wenn er nichts anderes kann? Schlimm, dass im Hintergrund der Finsterling Stephen Bannon die Strippen zieht: Dem ist es womöglich egal, ob am Ende alles in Scherben fällt…

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* Robert Crumb, „Point the Finger“, 1989, gefunden im Sammelband Robert Crumb’s America. SF/CA 1995, S. 83-88.  C. über T.: „singlehandedly making the world an uglier place to live in is one of Trump’s lesser crimes against humanity.“ (S. 84)

Zurück aus der Winterpause

57Was bisher geschah: http://www.zeit.de/video/2017-01/5300010962001/usa-sieben-tage-trump
Dazu die Analyse des SR: Trump pöbelt und verkauft sich als volksnah, hat aber keinen Plan und kann Politik nicht, Diplomatie schon gar nicht. Sein Unvermögen sucht er zu einer Stärke zu machen und als „Kampf gegen das Establishment“ auszugeben. Anscheinend kann er weder Politik noch präsidiales Verhalten, er kann aber Show und Pöbelei. Wider Erwarten Präsident geworden, reitet er erstmal sein Erfolgsrezept aus dem Wahlkampf weiter und hofft, dass ihm oder seinen Beratern schon noch was einfällt, wenn es eng wird. Einstweilen twittert und schockiert, droht und beleidigt er weiter, schwätzt über Folter… Kann er noch einen draufsetzen? Vielleicht die Ankündigung, die Sklaverei wieder einzuführen?

Trump blamiert die USA vor aller Welt: ein angeblich kaputtes Land, das auf seinen Retter Donald Trump gewartet hat. Haben die Amis das verdient? Mir tun sogar seine Wähler leid, die sich (noch?) mit markigen Worten zu ihm bekennen. Das andere Amerika, das Mutterland demokratischer Werte — vertreten z.B. durch Meryl Streep* oder Michelle Obama** — kann nur versuchen, auf Niveau und Distanz zu bleiben, um nicht mit Trump in einen (Nacht)topf geworfen zu werden…

„Good night and good luck!“ 

SR

P.S.: Wenn Ihr scharf darauf seid, Euch fortan ständig über den Obengenannten aufzuregen, dann seid Ihr hier falsch; denn der SR hat nicht vor, jeden Klops, Furz oder Aufreger, den Trump fast täglich ‚raushaut, zu kommentieren. Dafür ist der SR nicht zurück aus der Winterpause. Wieso das? Einen guten Grund nennt dieser Kommentar: Achterbahn mit dem US-Präsidenten: Dauerempörung spielt Donald Trump in die Karten – Politik – Tagesspiegel   Es gibt genug andere wichtige Themen, und, bitte, bleibt besonnen!***

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* Wer gut Englisch versteht, sehe und höre ihre Rede auf der Verleihung des Golden Globe 2017, zu finden auf ihrer Homepage: MSO: Meryl Streep Online .    Ebenso beachtenswert ist …

** Michelle Obamas Rede auf einer Wahlkampfveranstaltung Hillary Clintons im Oktober 2016: http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-08/usa-wahlen-wahlkampf-american-short-stories   (man muss ein wenig scrollen, bis man den Beitrag mit dem Video im Artikel findet).

*** Nachtrag vom 06.02.2017: Wer sich mit einer eher sachlichen Diskussion über den Prollo im Weißen Haus beschäftigen möchte, sei verwiesen auf >„Anne Will“ zu Donald Trump: „Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit“ – SPIEGEL ONLINE Wer den Nerv dafür hat, kann auch dort besserwisserische Wutkommentare aus der antidemokratischen Ecke finden. Aus psychologischer Sicht vielleicht interessant, aber muss man nicht lesen (Warum — siehe >Startseite, Fußnote zu Kommentaren im Netz).

13g+

Zum Neuen Jahr 2017

80aJahresrückblicke 2016 gab es ja schon seit Anfang Dezember in verschiedenen Medien, anscheinend wollte da jeder der erste sein — so wie der Handel teils schon im September die Schokoladen-Nikoläuse und -Weihnachtsmänner anbietet. Mir persönlich gefiel der Rückblick von Dieter Nuhr ganz gut — obwohl auch er auf den billigen Gag mit dem nuschelnden Til Schweiger nicht verzichtete. Urban Priol verweilte etwas länger darauf und zog auch noch Veronika Ferres durch den Kakao, wofür mir allerdings kein Anlass erkennbar wurde.

Ist es vielleicht so, dass manche Kabarettisten glauben, auf ein paar platte Kalauer nicht verzichten zu können, damit im Fernseh-Publikum auch die geistig weniger Aktiven was zu lachen haben? Dann bieten sich als sichere Bank eben die geläufigen Bashing-Objekte an. Wenn über Trumps Frisur schon eine Menge Witze gemacht wurden, dann bitte wenigstens etwas origineller, z.B. wenn Nuhr von einem „auf dem Kopf implantierten Eichhörnchen“ spricht.

Apropos geistige Aktivität: Gern wird die Ferres in einem Atemzug mit ihrem Ehemann Carsten Maschmeyer an den Pranger gestellt. Ich habe zwar nicht verfolgt, was genau ihm derzeit juristisch vorgeworfen wird, bin aber soweit informiert, dass er wie viele Andere eine Gesetzeslücke genutzt hat oder haben soll, die über trickreiche Umwege dazu führte, dass der deutsche Staat ihnen Steuer-Rückerstattungen doppelt auszahlte (sogen. „Cum-Ex-Geschäfte“).

Moralisch sehe ich das in derselben Kategorie wie Hauptwohnsitz-Verlegung in ausländische Steueroasen: zwar legal, aber… Wer moralisch wertet, fragt auch: Warum hat Schäubles Finanzministerium diese Lücke, die jahrelang bekannt war, nicht umgehend gestopft? Warum wurde weiterhin jahrelang sehenden Auges Geld anderer Steuerzahler zum Fenster hinaus geworfen?

Und da komme ich zur Frage der geistigen Aktivität: Laut Bericht eines TV-Magazins war diese Materie so kompliziert, dass es selbst im Ministerium an Sachverstand fehlte, um Durchblick zu bekommen und Abhilfe zu schaffen. Der Sachverstand scheint aber bei Finanzfachleuten in der Wirtschaft vorhanden gewesen zu sein, als sie ihren Kunden die Lücke nutzbar machten. Warum nicht im Ministerium? Man könnte sarkastisch anmerken: Da hatten wohl die externen Fachleute wieder an einem Gesetzesentwurf mitgeschrieben und auf kurzem Dienstweg erfolgreich Lobbyarbeit betrieben. Ihr Text, den im Ministerium keiner richtig verstand, wurde dann Gesetzesvorlage und vom (ebenso wenig durchblickenden) Parlament abgesegnet.

[Zwischenfrage: Kann es sein, dass unsere besten Leute eher in gut bezahlte Positionen in der Wirtschaft einrücken, statt weniger gut bezahlte politische Ämter und Funktionen zu übernehmen?]

Wer will da die Schuld einseitig verteilen? Natürlich ist so etwas dem breiteren Publikum nicht zu vermitteln. Das schreit ja heute ohnehin immer lauter nach einfachen Lösungen, gern auch „postfaktischen“: Verschont uns mit komplizierten Sachverhalten — wir wollen Schwarz oder Weiß, Schuldig oder Unschuldig hören, und zwar schnell! Schäuble kann also schmunzeln, wenn Comedians und Satiriker auf Maschmeyer und Andere draufhauen und von anderen Mitwirkenden ablenken. Deshalb meine Bedenken: Oft artet selbst satirische Unterhaltung in den Medien in Ablenkung von wirklichen Problemen aus.

Wir haben aber schon mehr als genug Ablenkung durch Informationsüberflutung und Zerstreuung, unsere Aufmerksamkeit wird ständig auf etwas Neues oder Anderes gezogen, sodass kaum jemand mehr Pause macht und die Dinge ordnet, einordnet und überdenkt. Statt wohldurchdachte Fragen zu entwickeln und Zusammenhänge zu verstehen (ach, wie mühsam!), fallen die Leute lieber auf allerlei gut klingende „Informationen“ und sensationelle Verschwörungstheorien herein. Am liebsten konsumieren sie zur Nachricht gleich die vorgegebene Meinung und deftige Emotionen mit (nach bekanntem VorBILD).

Entschleunigung im Bereich Information und Medien täte oft gut, statt immer der nächsten Sau nachzurennen, die gerade wieder durch’s Dorf getrieben wird…  als ginge es nur darum, kein Spektakel zu verpassen. Überspitzt formuliert: Die wollen uns nicht mehr informieren, die wollen nur noch Quote und Werbeeinnahmen steigern — im TV wie im Internet. Ich möchte nicht wissen, wieviele interessante Meldungen im Mediengeschäft untergehen, weil sie nicht unterhaltsam genug sind bzw. weil nicht die richtigen Bilder dazu gezeigt werden können (obwohl schon viele Leute Handy-Videos von schlimmen Unfällen etc. an die Medien liefern).**

Also: Was diese Website fu-frechen.de anzuregen versucht, wird hoffentlich aus den obigen Ausführungen deutlich. Ansonsten schaue man ins Impressum sowie in die Startseite, oder in die Unterseite Clio oder andere.

In diesem Sinne: Ein gutes, ein an Fakten und klugen Einsichten interessiertes und orientiertes Neues Jahr 2017 allen BesucherInnen dieser Website!

S. R.

* mehr dazu >Finanzrichter zum Dividendenstripping: Drohen Steuernachzahlungen im großen Stil?

** Wohltuend hebt sich davon Vieles ab, was man sich z.B. im Radio auf WDR 5 anhören kann — vorausgesetzt, man gehört zu den Menschen, die noch mit Konzentration und Geduld längeren Wortbeiträgen folgen wollen und können und zu Vielem mehr als nur eine Kurzmeldung wissen wollen. Schade, dass ein Sendekanal, der oft ausführlicher als jede Nachrichtensendung Hintergründe und Zusammenhänge beleuchtet, de facto ein Minderheitenprogramm sendet. Es soll ja auch eine Menge Leute geben, die nicht in der Lage sind, den Sinn längerer Sätze oder eines längeren Textes zu erfassen. Von denen gehen aber auch viele wählen: eine leichte Beute für Stimmvieh-Fänger (ja, die mit den einfachen Weltbildern und einfachen Lösungen für Probleme, die in ihrer Komplexität von Vielen nicht einmal ansatzweise begriffen werden). Genau: Darum kleben sie in Wahlkämpfen diese unsäglichen Plakate mit den simplen Slogans (die im Zweifel nichts aussagen)!

13g+

Köln-Notizen Dez. 2016

50Wollen wir einen vorausschauenden Blick in den bevorstehenden Jahreswechsel wagen? Was sehen wir in der Kristallkugel? Zumindest eins: Nach dem großen Medien-Hype „Silvesternacht 2015 in Köln“ werden soviele Polizisten und andere Ordnungshüter Dom und Hauptbahnhof umschwirren, dass jeder trotzdem noch hergekommene Übergriffige fürchten muss, eine unerkannte Polizistin in Zivil anzupacken, die ihn gleich auf’s Kreuz und in Handschellen legen wird. Seine „Heldentat“ kann er sich anschließend auf der Wache im Videobeweis gestochen scharf ansehen.

Ein Bekannter erzählte mir vor Jahren, dass er in einer gerammelt vollen Kneipe an Karneval mit einer attraktiven Frau tanzte und sie im Gedränge am Hintern begrapschte. Das gefiel ihr wohl nicht, denn unvermittelt griff sie ihm in den Schritt und drückte fest zu. Er kriegte kaum Luft vor Schmerz, die Frau verschwand im Gewühl. Könnte das nicht eine Alternative sein für diejenigen, die einen Übergriffigen nicht auf Armlänge halten können?

Was bringt das Jahr 2017 für Köln? Die Zeitungen unken bereits: Da wird es nicht weniger, eher mehr Staus auf den Straßen in und um Köln geben. Wenn man dem etwas Positives abgewinnen kann, dann dies: schlecht für Kriminelle, die schnell das Weite suchen wollen. Folglich positiver Nebeneffekt: weniger Einbrüche in Köln, und damit rechnerisch eine höhere Aufklärungsquote, sofern die Polizei nicht Unmengen von Überstunden abfeiern muss. Überall wurde in letzter Zeit mehr Polizei-Präsenz gefordert; da man aber jahrelang Personal abgebaut hat, können die zusätzlichen Polizisten nun nicht aus dem Hut gezaubert werden. Sie müssen erst einmal ausgebildet werden, und solange muss das vorhandene Personal vermehrt Überstunden machen. —

Was wird es sonst im Neuen Jahr 2017 geben? „Reichsbürger“ aufgemerkt: Wer nicht in diesem Staat, sondern in einer echten GmbH leben will, der wandere nach der Inauguration des neuen Präsidenten Donald Trump (20.Januar) flugs in die USA aus! Jetzt schon zeichnet sich ab, dass er sein Kabinett großenteils aus Geschäftsleuten bildet, die wie er selbst im Geldmachen groß sind, und denen er wegen ihres „Verhandlungsgeschicks“ im Big Business zutraut, das bisschen Politik flott zu erledigen.

Und wenn es mit der USA-GmbH nicht so laufen sollte, wie er es seinen Wählern (oder Kunden?) versprochen hat, dann… ja meine Güte, Leute, dann macht Trump eben keine 2. Amtszeit und entzieht sich den Konsequenzen, schließlich bedeutet GmbH doch „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“! Dann wird Amerika eben nicht „great again“, die Mittelschicht wird ganz abgehängt, Ölkonzerne ruinieren weitere Landstriche, und China als großer Gläubiger übernimmt am Ende den überschuldeten Laden, während Trump twittert, dass er dann mal weg ist, nämlich ins Exil nach Russland, zu seinem Gönner Putin. Und der übernächste Präsident der US-GmbH hat womöglich einen chinesisch klingenden Namen und macht die USA zu einem Sonderverwaltungsgebiet Chinas — wie Hongkong.

Übrigens haben die Chinesen ein Sprichwort, das sagt: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die Einen Mauern, die Anderen Windmühlen.“ Denkt mal drüber nach.

W. R.

13g+

Am 7. Dezember…

… geschah so Manches in der Geschichte. In Deutschland war es der Tag im Jahre 1835, als am Gleis der neuen Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth eine große Menschenmenge die erste Fahrt eines mit einer Dampflokomotive bewegten Eisenbahnzuges sehen wollte. Die Lok war eigens aus England importiert worden, die Kisten mit den Einzelteilen brauchten Wochen für ihren Weg. Über Land mussten sie mit Fuhrwerken transportiert werden und etliche Zollgrenzen passieren. Auch der Lokführer war aus England eingereist.

Eröffnung der Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth am 7.12.1835 (Abb. aus der "Gartelaube", 1885; Wikipedia, gemeinfrei)

Eröffnung der Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth am 7.12.1835 (Abb. aus der „Gartenlaube“, 1885; Wikipedia, gemeinfrei)

Es herrschte großer Andrang, viele Menschen wollten mit diesem Personenzug fahren. In mehreren Stichen und Lithografien wurde das Ereignis festgehalten — siehe unser Beispiel, eine Darstellung, die in der „Gartenlaube“ erschien.

Eine große Nachfrage beim Publikum rief auch der erste Personenzug hervor, der im Jahre 1839 von Köln nach Müngersdorf fuhr.

Dort an der Bahnstrecke war ein schönes Gebäude als Bahnhof und Ausflugslokal errichtet worden, von wo man bis Köln und ins Bergische Land blicken konnte.  Dieses Gebäude ist der einzige noch erhaltene von den frühen Bahnhöfen in Deutschland und steht heute unter Denkmalschutz.
Mehr über dieses Gebäude mit Garten sowie Vieles über frühe Eisenbahngeschichte erfährt man hier auf fu-frechen.de / Clio, 8.2.

Bahnhof Belvedere in Köln-Müngersdorf, Gartenseite 2016

Bahnhof Belvedere in Köln-Müngersdorf, Gartenseite Sept. 2016

W. R.

13g+

Wetterleuchten in „God’s own country“

13b-2ÖGE Gott ihn erleuchten“, verlautet der Vatikan nach Trumps Sieg im Präsidentschaftswahlkampf in den USA. http://www.europeonline-magazine.eu/vatikan-zu-trump-wahl-moege-gott-ihn-erleuchten_494165.html
Diesem Wunsch können sich Viele weltweit nur anschließen.
Als W.R. wenige Tage vor der Wahl ein paar Auszüge aus Donald Trumps Wahlreden sah, konnte er kaum glauben, dass 1. ein Mensch, der sich um ein hohes Staatsamt bewirbt, derart widerliche Dinge ins Mikrofon sagt, und dass 2. ein solcher Kandidat mit gehäuften Lügen und Beleidigungen dermaßen viele Wählerstimmen sammeln würde.
Wie das vor sich ging, erklärt vielleicht dieser Artikel: http://www.sueddeutsche.de/digital/us-wahl-praesident-troll-1.3241266 *

Was soll man von diesen WählerInnen halten? Geht es da überhaupt noch um Politik im eigentlichen Sinne? Ist Amerika noch zu retten? Es wird wohl nicht reichen, nur Trump als Präsidenten zu erleuchten, da wird mehr Arbeit für IHN anfallen in „God’s own country.“

W. R.

1ub-2Nachtrag am 11.11.2016   Wer eine Interpretationshilfe braucht, dem sei gesagt, dass der Vatikan mit der oben zitierten Verlautbarung meint: Da hilft nur noch beten (wenn überhaupt etwas).  —  Die AfD, die Brexit-Kampagne und Donald Trumps Wahlreden haben uns vor Ohren geführt, dass wir im „postfaktischen Zeitalter“ leben: Fakten und Wahrheit sind beliebig austauschbar geworden durch Behauptungen und Lügen; statt Faktenrecherche von Journalisten ist bei vielen Leuten nur noch Gewäsch und Gepolter auf ihren Lieblings-Internetseiten gefragt, die die eigenen Ansichten und Vorurteile bestärken. So erklärt sich der große Zulauf von Trump in den USA, meinen einige Analysten; andere sehen als Hauptgrund die Enttäuschung der vom globalisierten Kapitalismus Abgehängten und Verarmten.  —  Es wird jetzt viel Kaffeesatz gelesen: Was hat Trump wohl vor? Ja was wird er wohl tun, wenn er als Minister, Berater und Zuarbeiter überwiegend Hardliner aus dem republikanischen Lager holt? Am wahrscheinlichsten ist ein Retro-Kurs des „Law-and-Order“, denn schärfere Gesetze signalisieren härteres Durchgreifen und Stärke, ohne dass damit schon etwas getan oder viel Geld in die Hand genommen werden muss. Hauptsache, es macht erstmal Eindruck bei der Bevölkerung, auch wenn es real nichts verbessert. Am Ende könnten die USA einem Gottesstaat ähneln, wo statt der Scharia ein alttestamentarischer Rigorismus das öffentliche Leben bestimmt… — Jetzt kneife mich mal jemand, dass ich aus dem Alptraum aufwache, denn schwarzsehende Kommentare gibt es schon genug, und draußen ist auch schon wieder finsteres Novemberwetter! Vielleicht hilft manchen Rheinländern die Flucht in den Sessionsauftakt des Karnevals; andere mögen einen Anlass sehen, sich die Welt zu Hause schön zu trinken; und einige werfen vielleicht eine der guten alten Cognacbohnen ein, und noch eine, und nochmal eine, und trösten sich mit Nostalgie: Früher war nicht alles schlechter…

020-3 Weinbrandbohnen* Ergänzung am 27.11.2016: Nach viel Kritik an Facebook liest man auch von der Bedeutung des Fernsehens in jenem Wahlkampf, insbesondere vom konservativen US-Sender Fox. Die in den ländlichen Bezirken wahlentscheidenden älteren weißen Männer, heißt es, hätten nach Umfragen überwiegend aus dem TV ihre politischen Informationen bezogen, während das Internet eher für jüngere Leute als Informationsquelle von Bedeutung war (Näheres >US-Wahlkampf: Nicht Fake News auf Facebook haben die Wahl entschieden | ZEIT ONLINE ). Wie auch immer: Auch in Europa werden diese Vorgänge aufmerksam analysiert…

1ub-2

Kraftmeier am Bosporus

8daIn Deutschland tritt eine Parlaments-Abgeordnete von ihren politischen Ämtern zurück, nachdem öffentlich bekannt geworden ist, dass sie einen Teil ihrer offiziellen Biografie (Abitur, Jurastudium, Staatsexamina) gefälscht hat. Ähnliches geschah mehreren Politikern, nachdem ihre Doktorarbeiten einer Plagiatsüberprüfung nicht standgehalten hatten.

In der Türkei ist man da offenbar großzügiger: Staatspräsident Erdogan hat anscheinend auch seine offizielle Biografie mit einem Hochschulabschluss geschönt, dabei aber übersehen, dass die Urkunde von einer Akademie ausgestellt wurde, die erst im Folgejahr gegründet wurde, und von Leuten unterzeichnet ist, die erst im folgenden Jahr ihre Ämter an dieser Hochschule antraten. Genau genommen hätte er ohne diesen akademischen Abschluss (laut Verfassung) nicht türkischer Staatspräsident werden dürfen (mehr >Recep Tayyip Erdogan: Hat er sein Diplom gefälscht? – SPIEGEL ONLINE ).
Das verschärfte offenbar nur seinen öffentlichen Ton gegen Akademiker, die es sich angeblich auf Staatskosten gut gehen lassen, und gegen kritische Journalisten.

Dann kam der niedergeschlagene Putschversuch vom Juli 2016, das „Gottesgeschenk“ (so sein Kommentar). Nun wütete Erdogan ungebremst los gegen Gebildete im Staatsdienst und kritische Medien. Er scheint ein persönliches Problem damit zu haben, dass es Leute gibt, die ihn oder seine Politik kritisieren.
Das könnte sich bei ihm so abspielen: Die wollen mir was, die gönnen mir meinen Aufstieg aus einfachen Verhältnissen an die Staatsspitze nicht. Das Mittel meiner Wahl: „Säuberungen“ im Staat, weg mit all den Klugscheißern, die mir als Führer der Türkei nicht zujubeln, die nicht für mich auf die Straße gehen.
Viele Gebildete kommen aus den Schulen der Gülen-Bewegung, die er früher zum Verbündeten hatte und nun zum Staatsfeind und Putsch-Anstifter erklärt hat. Nicht, dass man diese religiös geprägte Bewegung sympathisch finden müsste — sie scheint ein wenig wie Scientology auf islamisch zu sein. Aber die „Machtergreifung“ Erdogans durch einen Putsch von oben, als Reaktion auf das oben erwähnte „Gottesgeschenk“, macht ihn keineswegs sympathischer.
Folge seiner „Säuberungen“ wird ein Chaos in Justiz, Verwaltung und im Bildungswesen sein, die vielen suspendierten, entlassenen und verhafteten Leute wird er mittelfristig nur unzureichend durch andere, teils weniger qualifizierte Köpfe ersetzen können, zumal die erwünschte Gesinnung wichtiger ist als Qualifikation. (Eine Personalpolitik nach Parteibuch statt Qualifikation hat auf Dauer noch keiner Organisation gut getan.)
Und das türkische Militär dürfte auch geschwächt sein — nicht unwichtig bei der Größe dieser Armee. Die ist immerhin Teil der Nato. Auch deshalb kann der Zustand der Türkei anderen  Nato-Staaten nicht egal sein. Dass auch noch die Wirtschaftsentwicklung der Türkei in Turbulenzen kommt, macht die Lage nicht einfacher. Jedenfalls kann Erdogan mit seiner Innenpolitik nicht auf einen baldigen Beitritt zur EU hoffen. Es scheint ihm viel wichtiger zu sein, weiter zu kraftmeiern, gegen Kritiker Amok zu laufen und sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei auszusprechen, als dem Land den Weg in die EU offenzuhalten.

Im Laufe des Oktober 2016 zeichnet sich ab, dass Erdogan auch außenpolitisch nicht von der Kraftmeierei lassen kann. Heißt konkret: Er nimmt großtürkische Expansionsträume auf und greift militärisch in den Bürgerkrieg in Syrien und im Irak ein. Der Nordirak mit der Stadt Mossul wird als früherer Teil des Osmanischen Reiches (das es nicht mehr gibt) nun für die Türkei beansprucht (Putin lässt grüßen). Auch andere Machthaber und Diktatoren versuchten in der Geschichte, Gebiete „heim ins Reich“ zu holen… Das ist ein so abgestandenes Rechtfertigungsmuster von Expansionspolitik, dass es einen Historiker schon anöden kann. >Türkei: Recep Tayyip Erdogan träumt vom Osmanischen Reich – SPIEGEL ONLINE

8dbEbenso altbekannt ist das Muster, bei Schwierigkeiten im Inneren die Unzufriedenheit u.a. dadurch einzudämmen, dass man einen äußeren Feind aufbaut und nationale Geschlossenheit im Inneren einfordert. Dieses Mittel hat sogar Margaret Thatcher als Regierungschefin einer westlichen Demokatie nicht verschmäht: Während des Falkland-Krieges (1982) bezeichnete sie die Kritiker im Lande als „the enemy within“. Auch George W. Bush jr verfuhr so mit Kritikern seines Krieges gegen den Irak (2002). Dieses Muster kopiert derzeit Erdogan, der ja Krieg gegen die PKK, gegen kurdische Peschmerga in Syrien und im Irak, und gegen den IS führt.

Was geht das uns an, die wir als Deutsche in Deutschland leben? Haben wir uns nicht aus „innertürkischen Angelegenheiten“ herauszuhalten? Kann es uns nicht egal sein, wenn „weit hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“, wie Goethe eine Figur in seinem „Faust“ sagen ließ? Erstens nein, weil in Zeiten der Globalisierung nicht einmal egal ist, ob im fernen China der sprichwörtliche Sack Reis umfällt; zweitens nein, weil die Türkei, wie gesagt, Nato-Partner ist, und ein Handelspartner Deutschlands; drittens nein, weil die aktuelle Flüchtlingsproblematik auch mit der Politik der türkischen Regierung verbunden ist; viertens (und eigentlich am wichtigsten) nein, weil viele Türken und türkischstämmige Menschen in Deutschland leben und ein großer Teil von ihnen die Politik Erdogans lautstark gutheißt und unterstützt.

Was das für die Mentalität und das Selbstverständnis vieler Türken und Türkinnen hier bedeutet, bringt eine Deutschtürkin mutig und unverblümt auf den Punkt: >Tuba Sarica | Integration · Islamkritik · Weltgeschehen

Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass man Erdogan gewähren ließ, als er zum innertürkischen Wahlkampf nach Deutschland kam und in Großveranstaltungen seinen Landsleuten zurief, sie seien nach wie vor Türken und brauchten sich nicht in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Das war zwar vorrangig als Stimmenfang für den Wahlkampf in der Türkei gedacht, man konnte es aber zugleich als eine de-facto-Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland sehen. (Wohlgemerkt: Das war lange vor dem Flüchtlings-Deal!)

9eDerzeit ist deutlich zu erkennen, dass Erdogan seine Machtpolitik trotz aller Kritik aus dem Ausland fortsetzt und sogar verstärkt. Ähnliches sehen wir auch bei anderen Machtpolitikern, die in ihren Ländern autoritäre Regime auf- und ausbauen. Kritik aus dem Ausland wird zu einer Verschwörung umgedeutet, Kritik im Inland niedergeknüppelt. Der Staatspräsident erklärt: Hier wird die „fortgeschrittene Demokratie“ (!) verteidigt. Wie bitte? Das ist doch eher die fortgeschredderte Demokratie: Kritiker werden in „Schutzhaft“ genommen, die Medien gleichgeschaltet.

Dazu noch eine weitere Stimme: >Offener Brief von Shermin Langhoff in Berlin: „Das Ende der Demokratie in der Türkei“ – Politik – Tagesspiegel

Während Erdogan so tut, als ließe ihn alle Kritik an seinem autoritären Regime kalt, sammelt er doch fleißig Ehrendoktor-Titel, um sich mit einer Aura akademischer Weihe zu umgeben und damit die Fragen nach seinem Universitätsabschluss in den Hintergrund zu drängen. Hauptsache, er erscheint seinen Anhängern weiter als der vielgeehrte, große, starke Mann. Die Anderen werden eingeschüchtert und mundtot gemacht.

W. R.